Unterricht als Religion

Weg­ge­sperrt. In einer Mau­er­ni­sche. Schla­fen konn­te man nur im Knien, wenn man durf­te. Mit dem Rücken die Mau­er hin­un­ter rut­schen, einen hal­ben Meter etwa, bis die Knie auf der gegen­über­lie­gen­den Sei­te der Nische anstie­ßen, dann konn­te man sich – so ver­keilt – schon ent­span­nen. Im Knien schla­fen. Es war ja eh schon gleich­gül­tig und alles egal. Zu essen bekam man nur ver­dor­be­nen Fisch, leicht grün­li­ches Fleisch. Und wenn man sich über­ge­ben muss­te, über­gab man sich halt. Dann war die Ursa­che wenigs­tens draus­sen. Und an Gerü­chen ver­schwen­de­te man sowie­so kei­nen Gedan­ken, man gewöhn­te sich an alles!
Soweit ein Aus­zug nur aus den Erin­ne­run­gen an unse­ren Reli­gi­ons­un­ter­richt der Unter­stu­fe. Als Pro­tes­tan­ten genos­sen wir den Unter­richt immer aus­ser­halb der “nor­ma­len” Unter­richts­stun­den. Die­ser Aus­zug oben betrifft die Schil­de­run­gen unse­res Reli­gi­ons­un­ter­rich­ten­den betref­fend sei­ne Inhaf­tie­rung im berühmt-berüch­tig­ten Mos­kau­er Lub­jan­ka-Gebäu­de­kom­plex am Ende des 2.Weltkrieges. Aber das war noch nicht alles. Von ihm wur­den wir detail­liert über die Phi­lo­so­phie des Kom­mu­nis­mus unter­rich­tet, das Orga­ni­gramm der KPdSU, die Struk­tur und die Zie­le der sta­li­nis­ti­schen Sowjet­uni­on. Wir beweg­ten uns also im Reli­gi­ons­un­ter­richt weit aus­ser­halb  des Norm-Unter­richts, ohne dass es uns als Schü­ler über­haupt bewusst gewor­den wäre. Noch dazu ver­stan­den sich damals die Stei­rer offen­sicht­lich ganz gut mit ihren Nach­barn, den Tito-Yugo­sla­wen. Die Einen bezeich­ne­ten sie aller­dings laut­stark als “Kum­merln” und fuh­ren sehr ger­ne auf Urlaub zu ihnen, die Ande­ren ent­hiel­ten sich jeg­li­cher Mei­nung und schwie­gen. Sie genos­sen ohne Genos­sen zu sein. Die FKK-Zonen etwa, am Mit­tel­meer. Eini­ge Jah­re hat­ten wir auf die­se Art Unter­richt über Kom­mu­nis­mus. Der “nor­ma­le” Geschichts­un­ter­richt hör­te spä­tes­tens mit der Vor­ge­schich­te zum Ers­ten Welt­krieg auf. “Reli” – so die Abkür­zung für den “Reli-gions­un­ter­richt” – war also schon ziem­lich aktu­ell, aller­dings erfuh­ren wir nichts über die Figu­ren und Per­sön­lich­kei­ten , die im Alten und Neu­en Tes­ta­ment ihre Rol­le spiel­ten, über Zusam­men­hän­ge und Ereig­nis­se oder über Sym­bo­lik. Nicht ein­mal Beten war der Erwäh­nung wert oder was ein Zwie­ge­spräch mit dem, was wir als “Gott” bezeich­nen, zu bedeu­ten hat­te, was hin­ter dem 4‑Buchstabenwort steckt, was das klei­ne Wört­chen “Amen”, das am Ende eines Gebets gespro­chen wer­den soll­te, eigent­lich aus­sagt. Vor­rang hat­te alles, was mit “Kum­merln” zu tun hat­te, obwohl das alles viel mehr mit dem Des­po­ten “Sta­lin” zu tun hat­te. Aber das wuss­ten wir damals noch nicht. Das durf­te sich ja auch nicht her­um­spre­chen. Damals ver­such­te man uns die Welt halt so zu erklä­ren. Es gab ja auch haupt­be­ruf­li­che “Welt­erklä­rer”. Vin­cenz Lud­wig Ost­ry war so einer, der sprach via Radio zu uns. Auf die­se Art und Wei­se ent­pupp­te sich alles, was mit dem Begriff “Unter­richt” zu tun hat­te, als wich­tigs­ter Bestand­teil von Reli­gi­on. Unter­richt, ins­be­son­de­re der “Geschichts”-Unterricht, stell­te sich dar als Bestand­teil einer nicht näher defi­nier­ba­ren “Reli­gi­on”. Natür­lich war die­se wie­der abhän­gig von mensch­li­chen “Erklä­rern”. Aber alle schie­nen an “Unter­richt” zu glau­ben. Man glaub­te an ihn, so als wür­de er sonn­tags in der Kir­che, der Moschee, in irgend­wel­chen Bethäu­sern gelehrt. Die Schu­len wur­den zu sol­chen Häu­sern umfunk­tio­niert, genau­so schien es zu sein. Unwi­der­ruf­lich. Unab­än­der­bar. Alles schien so zu sein, wie gelehrt, wie gepre­digt. Für immer und ewig.
Es gab zwar schon kri­ti­sche Stim­men, aber die waren zum Nicht-gehört-Wer­den ver­dammt. Nur Lesen durf­te man sie. In Form von Lite­ra­tur aus dem Bereich der Phi­lo­so­phie. Gespro­chen wur­de dar­über in sehr geschlos­se­nen Zir­keln, meis­tens in uni­ver­si­tä­ren Umfel­dern. Selbst Dr. Fred Sino­watz hat es Jah­re spä­ter als Unter­richts­mins­ter unter viel Zeter- und Mor­dio-Geschrei geschafft nur die Volks­schu­le zu refor­mie­ren. Sicher, seit Freds Zei­ten hat sich eini­ges zum Posi­ti­ven geän­dert. Aber eben nur “eini­ges” und das ist schon wie­der eini­gen zuviel, geht zu weit.
Erin­nern kann ich mich sehr bild­haft an den Direk­tor der Pestalozzi(!)-Schule, einem unver­kenn­ba­ren Wie­ner mit ech­tem natür­li­chen Favo­rit­ner “L”, einem Den­tal-Laut, erreich­bar durch das Zusam­men­spiel von Zun­gen­spit­ze und Schnei­de­zäh­nen. Beson­ders drück­te sich das aus in der Auf­for­de­rung “einen SchiL­Ling” abzu­lie­fern dafür , dass man sich zuvor unab­sicht­lich an der grün­ge­stri­che­nen Gang­wand ange­lehnt hat­te. Das kos­te­te eben den berühmt gewor­de­nen Straf-Schil­ling mit dem Favo­rit­ner “L”. Herr Direk­tor Neu­mann war der obers­te “Reli­gi­ons­hü­ter” oder “Imam” oder “Kar­di­nal”  oder “pas­dar­an” der Schu­le. Was die rea­le soge­nann­te Reli­gi­on betrifft, so habe ich mir das Wis­sen aus dem “Kreis” der evan­ge­li­schen Jugend geholt, aus den Bibel­stun­den, dem zusätz­li­chen offi­zi­el­len Kon­fir­ma­ti­ons­un­ter­richt, aus den Vor­fäl­len mit Horst und den Mor­mo­nen, den end­lo­sen Dis­kus­sio­nen mit den Zeu­gen Jeho­vas und all den ande­ren vie­len Sek­ten und Par­ti­tio­nen des Chris­ten­tums.
Aus gegen­wär­ti­gen Erleb­nis­sen und – dar­aus resul­tie­rend – Erfah­run­gen müß­ten jene, die Ver­ant­wor­tung für die Infor­ma­ti­ons­ver­mitt­lung tra­gen, müß­ten also  Poli­ti­ker, Kir­chen­ge­schich­te in allen Details in den Bereich Geschich­te inte­grie­ren. Denn die Geschich­te der “Kir­chen” hat ja den Bereich “Geschich­te” maß­geb­lich beein­flußt und nicht nur zu beein­flu­ßen ver­sucht. Das betrifft alle Ereig­nis­se von “Kir­chen” und Reli­gio­nen die­ser Welt. Wer hät­te sich denn nicht arran­giert mit den “pas­dar­an” und sich bei­spiels­wei­se dafür ent­schie­den die Beru­fe der “Fri­seu­sen” und “Fri­seu­re” zu för­dern, oder der “Mecha­ni­ker” oder “Leh­re­rin­nen und Leh­rer”? Brau­chen wir noch “Grals­hü­ter” der Natio­nen? Sind die­se nicht bereits im Aus­ge­din­ge? Wird es nicht auch lang­sam Zeit für alle jene mono­the­is­ti­schen “Reli­gi­ons­hü­ter” sich mit den ursprüng­li­chen jahr­tau­sen­de­al­ten Schrif­ten, Ideen und Gedan­ken ernst­haft zu beschäf­ti­gen? Gleich­gül­tig ob Schii­ten, Sun­ni­ten, Chris­ten, Hin­du­is­ten, Chi­ne­sen, Bud­dhis­ten, Juda­is­ten, die Reli­gio­nen der Welt soll­ten sich einig und eilig zusam­men­tun und einig und eilig zusam­men­den­ken. Viel­leicht könn­ten sie sich dabei an Mahat­ma Ghan­di oder an der Bahá’í Inter­na­tio­nal Com­mu­ni­ty ori­en­tie­ren. Mög­li­cher­wei­se könn­te man bald ein­mal die unter­schwel­lig heik­le Sache mit den Namens­ta­gen ein­mal auf­klä­ren. Im süd­deut­schen Raum glaubt ja die älte­re Gene­ra­ti­on noch immer dar­an, dass die­se Tage so etwas sei­en wie Staats­fei­er­ta­ge, also von “ganz oben” – was auch immer das sein mag – ver­an­lasst wür­den.
Es sind die Ereig­nis­se, vor allem jene der Reli­gio­nen, wel­che Geschich­te pro­du­zie­ren. Des­we­gen hat die jeweils aktu­el­le Ver­mitt­lung der Infor­ma­ti­on Prio­ri­tät. Dar­auf auf­bau­end folgt die “Bil­dung”, wel­che nach Bedürf­nis­sen aus­ge­rich­tet ist. Durch die Ver­mitt­lung der Infor­ma­ti­on ent­wi­ckelt sich erst die Fähig­keit zur Selbst­be­stim­mung, zur Mit­be­stim­mung, zur Soli­da­ri­tät, zu ver­netz­tem Den­ken. Und es gehört zu den Grund­rech­ten des Men­schen: selbst zu bestim­men, selbst wäh­len zu kön­nen aus einem Ange­bot, wel­ches nur durch die mensch­li­che Fan­ta­sie begrenzt ist. Das tun zu kön­nen, was man auch aus­fül­len kann, was man sehr, sehr ger­ne tut und tun möch­te. Oder?
Mit dem ers­ten Tag mei­ner Aus­bil­dung an der “Aka­de­mie für Musik und dar­stel­len­de Kunst” lag die gan­ze Welt vor mir, und wenn ich ver­su­che, die­se “Welt” in Wör­ter und Sät­ze zu fas­sen, so gelingt es mir in keins­ter Wei­se und wem könn­te es wohl gelin­gen? Ich bin Wal­ter Zit­zen­ba­cher sehr dank­bar dafür, dass er drei Jah­re lang ver­sucht hat, unse­rer Gene­ra­ti­on die damals aktu­el­le Thea­ter­ge­schich­te nahe­zu­brin­gen. Alles was jemals mit ferns­tem Bezug zu Spiel und “Thea­ter” nie­der­ge­schrie­ben wur­de, zur Kennt­nis zu brin­gen, in uns wir­ken zu las­sen, in uns Gedan­ken frei zu set­zen. Sol­che von Aris­to­pha­nes etwa. Natür­lich auch Schil­lers “Räu­ber” oder Goe­thes “Faust”, allen bekann­ten und unbe­kann­ten Autoren, Dar­stel­lern und Regis­seu­ren. Er hat ver­sucht, uns die gan­ze Dra­ma­tur­gie von Leben mit- und nach­emp­fin­den zu las­sen, jeden Gedan­ken im Rah­men eines Mono­logs, eines Dia­logs, eines geschlos­se­nen Stü­ckes, des Lebens­wer­kes eines Schrei­ben­den, sprich: eines Den­kers. In die­sen Jah­ren erfuhr ich, was Atmen in allen Bedeu­tun­gen und Aus­drucks­for­men zu sagen hat, was Sich-Bewe­gen in allen For­men und Zusa­men­hän­gen, was Sit­zen in allen mög­li­chen For­men und Unfor­men, Ste­hen und Gehen zu bedeu­ten hat und aus­sa­gen kann und muss. Ich hat­te in all die­sen Jah­ren Mil­lio­nen von gan­zen ein­fa­chen Leben vor mir. Dar­auf hat­te ich mich gefreut und freue mich immer noch. Ohne mit irgend­ei­ner Wim­per zu zucken. Es ist ein Aus­bruch aus dem Reli­gi­ons-Unter­richt hin­über ins rea­le Leben gewe­sen.
Eini­ge Jah­re spä­ter: ein Spät-Nach­mit­tag in der Kan­ti­ne des Funk­hau­ses in der Wie­ner Argen­ti­ni­er­stra­ße. Eine zufäl­li­ge Run­de von Radio-Tech­ni­kern und Ö3-Mit­ar­bei­tern plau­dert und plauscht über dies und das, da wird mir bewußt, dass wir als soge­nann­te “Ö3-Mode­ra­to­ren” nur Luft anbie­ten, man­ches­mal nur hei­ßes­te Luft, dass wir unter­hal­ten indem wir uns über ande­re lus­tig machen, dass uns das Tröpf­chen Selbst-Iro­nie, das uns zur Grün­der­zeit so popu­lär gemacht hat, abhan­den “gekom­men wur­de”. Ich for­mu­lie­re dies auch und wer­fe es in die Dis­kus­si­on. Es wird still, zwei Kol­le­gen zucken mit der Schul­ter, lächeln, einer davon ist Wal­ter Müll­ner, ein Ö3-Archiv-Mit­ar­bei­ter, aber kein Gegen­ar­gu­ment kommt, so ist das zufäl­li­ge Mee­ting bald zu Ende, einer nach dem ande­ren ver­ab­schie­det sich. Was habe ich da getrof­fen? Das Schwar­ze?
Wohl nicht. Mit dem “Schwar­zen tref­fen” ist doch das Inners­te einer Ziel­schei­be gemeint. Das kommt daher, dass man das Ziel als ein Sym­bol des Geg­ners ver­stan­den hat, sein Aus­lö­schen und Nicht-mehr-Exis­tie­ren. So gese­hen habe ich eher ins Weis­se getrof­fen. Was ich damit aus­lös­te, liegt doch im posi­ti­ven Bereich.

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