Der alte “Eumig”

Ein Hügel bei Graz. “Lust­bü­hel” lau­tet sei­ne Bezeich­nung. Der “Bühel” der Lust. Für uns Kin­der lag der Gip­fel der Lust in der Neu-Gier­de ver­bor­gen. In der Neu-Gier­de nach allem mög­li­chen, nach jenem Unbe­kann­ten, das wir nicht ein­mal erah­nen konn­ten. Es war die Zeit der Besat­zung und es waren Eng­län­der hier her­oben. In ihren All­tags-Uni­for­men. Aus­schließ­lich Män­ner. Da war ein Kes­sel auf die­sem Hügel, eine Art Mul­de, umge­ben von Draht­zäu­nen, teil­wei­se Sta­chel-Draht­zäu­nen. Inner­halb die­ser offen­sicht­li­chen Sen­ke gab es Ein­mann-Zel­te in Tarn­far­ben. Dazwi­schen genau­so bemal­te Mili­tär-LKW mit Kas­ten­auf­bau­ten. Grö­ße­re und klei­ne­re. Und über­all Anten­nen, Anten­nen und Anten­nen. Die kann­ten wir schon. Ein lei­ses, geheim­nis­vol­les Pie­pen erfüll­te die Luft. Pip­til­li-piep-piep-piep-pip. Es kam aus den Zel­ten, aus den Auf­bau­ten und leg­te sich über die gan­ze Gegend. Nicht sehr laut, aber prä­sent. Die Her­ren in den Tarn­an­zü­gen vor und über den Gerä­ten hat­ten Kopf­hö­rer, hör­ten also nur ihr eige­nes Piep­sen oder jenes, wel­ches sie emp­fin­gen. “Geschlos­se­ne Sys­te­me” beim Hören via Ohr gehör­ten damals zu den Träu­men von soge­nann­ten Uto­pis­ten. Natür­lich konn­te man “mit­hö­ren”, wenn man nur schnell genug war und ent­schlüs­seln konn­te. Aber das war sogar uns Kin­dern klar, das war uto­pisch. Wenn die Her­ren Fun­ker mit dem schnel­len Fin­ger bemerk­ten, dass Kin­der jen­seits des Zau­nes anwe­send waren und sie beob­ach­te­ten, wink­ten sie oder war­fen Kau­gum­mi her­über. Manch­mal kam auch einer – meist waren es Män­ner mit einer ganz beson­de­ren Haut­far­be, eher kup­fer­far­ben – und bedeu­te­te uns zu einer Art Ein­gangs­tor. Dann wur­den wir unter Geplap­per und Lachen kurz durch das Lager geführt und vie­les wur­de uns gezeigt, was uns inter­es­sier­te. Gerä­te und Appa­ra­tu­ren hat­ten es uns über­haupt ange­tan. Da stan­den wir und schau­ten. Ehr­furchts­voll und still. Wir präg­ten uns die Tas­ten und Dreh- und Kipp-Schal­ter ganz genau ein, die Anzei­ge­instru­men­te, die Glimm- und Glüh­lämp­chen. Wir rät­sel­ten an den Beschrif­tun­gen her­um und dar­an, ob das wohl funk­ti­ons­tüch­ti­ge Din­ge waren – oder nicht.
Die Bron­ze­häu­ti­gen unter­hiel­ten sich in einer Spra­che, die fern vom “Ing­lisch” lag. Offen­sicht­lich waren sie die Wach­mann­schaft die­ser Funk­sta­ti­on. Aber nir­gend­wo konn­ten wir eine Bara­cke sehen, wo sie wohn­ten. Hier her­oben wur­de offen­sicht­lich nur gefunkt, Tag und Nacht. Die Män­ner, wel­che das taten, hat­ten offen­bar auch Freu­de dar­an. Und obwohl die Welt der Erwach­se­nen außer­halb die­ses Camps uns immer wie­der davor warn­te, dort­hin zu wan­dern, zog es uns genau dort hin. Die Men­schen in den Uni­for­men waren ja gar nicht böse, auch das war für uns eine wich­ti­ge Erfah­rung. Mög­lich dass eini­ge von ihnen viel­leicht poli­tisch böse waren, aber mehr­heit­lich waren alle hier her­oben freund­lich und nett. Eine Art “Kemp” hat­ten die Bri­ten sich da errich­tet. Ein Camp als Funk­sta­ti­on. Heu­te befin­det sich an die­ser Stel­le eine Erde­funk­sta­ti­on für Satel­li­ten. Damals war alles nur impro­vi­siert. Aber der obers­te Fun­ker der Besat­zungs­macht hat­te den Ort funk­tech­nisch per­fekt aus­ge­mes­sen. Die bri­ti­sche Besat­zungs­macht war via “Lust­bü­hel” bei Graz mit dem “United King­dom united”. Es war eine Schlüs­sel­po­si­ti­on. Nicht ein­mal beson­ders bewacht. Das fiel sogar uns Kin­der auf. Naja, der gro­ße Krieg war schon Geschich­te und der nächs­te droh­te zwar bereits, wur­de aber von nie­man­dem wirk­lich ernst genom­men. Außer­dem war der Eiser­ne Vor­hang weit, weit weg, irgend­wo bei Ungarn, und zwi­schen die­sem Land und unse­rer Stei­er­mark lag außer­dem noch die sowje­ti­sche Besat­zungs-Zone. Zu unse­rem unmit­tel­ba­ren Nach­barn Yugo­sla­wi­en im Süden hat­ten wir Stei­rer ja beson­de­re Bezie­hun­gen, so schien es. Obwohl man nicht über die abhan­den gekom­me­ne feh­len­de Unter­stei­er­mark rede­te: Das Stück Land unter­halb der Linie Rad­kers­burg – der Mur ent­lang bis Spiel­feld und bis hin zur Sobo­th war schon als Ver­lust zu spü­ren. Heu­te – 2017 – ist das alles ver­ges­sen. Die gan­ze Regi­on heißt zwar ganz anders jetzt, ist aber Bestand­teil der EU. Und damit kön­nen wir Stei­rer das tun, was wir schon immer – auch zu Titos Zei­ten – getan haben: Auf der süd­stei­ri­schen Wein­stras­se in wein­se­li­ger Lau­ne zwi­schen den bei­den Staa­ten zu pen­deln. Ein paar Schrit­te nach links und ein paar Schrit­te nach rechts. Ein­mal waren wir für ein paar Sekun­den Kom­mu­nis­ten und dann wie­der Demo­kra­ten. Ansons­ten waren nur Wein­re­ben links und rechts der Stra­ße, die gleich­zei­tig die Gren­ze bil­de­te. Und ein paar Hin­weis­schil­der, das Betre­ten der jewei­li­gen Staats­ge­bie­te betref­fend. Sonst nichts. Vor allem nichts Eisernes.

Was aber die­sen “Lust­bü­hel” für mich und mei­ne Freun­de so inter­es­sant mach­te, war, dass wir hier genau das sehen konn­ten, mit­er­le­ben konn­ten, was wir sonst nur durch das Radio, vor allem auf Kurz­wel­le, hören konn­ten. Dass wir also jene Leu­te von denen die Signa­le  aus­gin­gen noch dazu pro­blem­los beob­ach­ten konn­ten. Wir beka­men dem­zu­fol­ge mit, wie das Piep-Pip ins Radio kam. Dazu muss­ten wir die Fre­quenz-Bereichs­an­zei­ge nur auf Rot, auf Kurz­wel­le schal­ten. Wir erreich­ten dies mit dem Dop­pel­wahl­schal­ter auf der rech­ten Sei­te des Radio­ap­pa­rats. Mit dem klei­ne­ren Dreh­schal­ter. Damit konn­ten wir die ein­zel­nen Berei­che aus­wäh­len. Lang­wel­le, Kurz­wel­le oder Mit­tel­wel­le. Mit dem grö­ße­ren Dreh­schal­ter und unter Mit­hil­fe des “magi­schen Auges” konn­te man die ein­zel­nen Sta­tio­nen ansteu­ern. Sehr hilf­reich dabei war die Ska­la, auf der die sepa­ra­ten Sen­der bereits auf­ge­führt waren. So unge­fähr zumin­dest. Also Lon­don oder Paris oder Mos­kau zum Bei­spiel. Oder Graz-Dobl. Ein damals bekann­ter Mit­tel­wel­len-Sen­der. Gleich­zei­tig war Dobl außer­dem das Ziel unse­rer Bade­aus­flü­ge zur Kai­n­ach. Und viel­leicht waren unter all den Piep­sen­den auf Kurz­wel­le auch unse­re “Lust­bü­hel-Piep­ser” dabei.
Der alte Eumig war unse­re – vor allem mei­ne – ers­te Erfah­rung und Bekannt­schaft mit der Welt des Radi­os. Da stand die rie­si­ge Holz­kis­te mit dem magi­schen grün­lich zucken­den Auge. An ihrer lin­ken Sei­te der Ton-Dreh­schal­ter zum lau­ter und lei­ser dre­hen, mit mehr Bäs­sen für die klas­si­sche Musik­wie­der­ga­be oder mehr Höhen für das Moder­ne­re mit dem klei­ne­ren Dreh-Knopf. Rechts befan­den sich die bereits beschrie­be­nen Dreh­schal­ter für die Berei­che. Dass ich mit­hil­fe von unsicht­ba­ren “Wel­len” in der Luft einen gro­ßen Teil der Welt in der nicht nur ich leb­te, hör­bar machen konn­te, dass ich mit die­sen ande­ren Men­schen auch in Kon­takt tre­ten konn­te, mit ihnen “mor­sen”, zu ihnen spre­chen konn­te, sie mit mir reden konn­ten, das war für mich damals fas­zi­nie­rend. Ich ver­such­te zu begrei­fen, was da vor sich ging, wie das mög­lich wur­de. Ich ver­such­te zu begrei­fen, was das für uns alle bedeu­te­te. Gere­det wur­de dar­über sei­tens der Älte­ren über­haupt nicht, man mach­te sich bei auf­tau­chen­den Fra­gen eher lus­tig dar­über. Unter uns Kin­dern war es schon ein Dis­kus­si­ons­the­ma – ohne Erwach­se­nen­bei­stand. Mei­ne Eltern akzep­tier­ten das Radio. Mit allen Kon­se­quen­zen. Es wur­de auch die Mög­lich­keit der Mani­pu­la­ti­on bespro­chen, der poli­ti­schen Mei­nungs­bil­dung, die Aus­sich­ten der Wahr­heits­fin­dung. Das war für mich alles “nor­mal”. Nur: ich wuss­te, dass es nicht vie­le unter mei­nen Bekann­ten und Freun­den geben wird, mit denen ich über all jene Din­ge dis­ku­tie­ren könn­te. Dazu brauch­te ich noch Zeit, viel Zeit. Mein Vater erklär­te mir das Phä­no­men “Radio” soweit er konn­te. Heu­te wun­dert es mich in hohem Maße, woher die­ser ein­fa­che alte Mann dies alles wis­sen konn­te. Da muss­te schon sehr viel Inter­es­se dahin­ter ste­cken und vor allem rasches Begrei­fen und Ein­schät­zen von Kon­se­quen­zen. Für die unvor­ein­ge­nom­me­ne Wei­ter­ga­be sei­nes Wis­sens und sei­ner Kennt­nis­se bin ich ihm – auch heu­te noch – zutiefst dank­bar.
Mich beschäf­tig­ten zunächst die vie­len, vie­len Stör­sen­der, wel­che mit ihren pul­sie­ren­den Fre­quen­zen für ech­te Hin­hö­ren­de ihr ner­ven­tö­ten­des Spiel trie­ben. Und ich hör­te hin. Manch­mal konn­te ich teil­wei­se Spra­che ent­de­cken, wenn der betref­fen­de Stö­rer groß­flä­chig Fre­quen­zen deck­te, voll­au­to­ma­tisch selbst­ver­ständ­lich und dabei natür­lich die Aus­gangs­fre­quenz “ver­gaß”. Dann wur­de für kur­ze Zeit das Pul­sie­ren lei­ser, dann konn­te ich den ursprüng­li­chen Sen­der hören, solan­ge bis das Pul­sie­ren wie­der lau­ter wur­de. Stö­rer gab es jede Men­ge, auf die unter­schied­lichs­ten Arten. Da gab es Wat­scheln­de, Quä­ken­de, Rau­schen­de, Pul­sie­ren­de in jeder Form, von rasend schnell bis bedäch­tig lang­sam, dafür aber sehr effek­tiv.
Sehr effek­tiv waren unse­re “Camp Lustbühel”-Besuche jeden­falls. Bald wuss­ten wir, wie man eine ein­fa­che Diode in einen ein­zel­nen Kopf­hö­rer mon­tiert, wie man eine “Kro­ko­dil­klem­me” anbringt, mit deren Hil­fe wir Regen­rin­nen, Blitz­ab­lei­ter und Ähn­li­ches in total impro­vi­sier­te Radio­ge­rä­te ver­wan­deln konn­ten. Woher wir die Bestand­tei­le beka­men, dar­an kann ich mich beim bes­ten Wil­len nicht erin­nern. Sie dürf­ten irgend­wo frei her­um­lie­gen, kos­te­ten jeden­falls nichts. Hören konn­ten wir aller­dings nur den gera­de stärks­ten Sen­der, was für mich sehr bald lang­wei­lig wur­de, denn ein weit­aus umfang­rei­che­res Ange­bot hielt unser “Eumig” daheim bereit. Eines schö­nen Nach­mit­tags – es war tat­säch­lich ein son­ni­ger Feri­en-Nach­mit­tag und es war sehr warm – ging ich am Schau­fens­ter des Spiel­wa­ren­händ­lers in der Münz­gra­ben­stra­ße vor­bei, als mich bei­na­he der Schlag traf. Da gab es ein unwi­der­steh­li­ches Ange­bot: “Der klei­ne Elek­tri­ker”. Ein Bas­tel­kof­fer für ange­hen­de “Elek­tri­ker”, da waren Klin­gel­an­la­gen und Beleuch­tungs­schal­tun­gen und – des­we­gen hät­te mich damals der Schlag getrof­fen – ein kom­plet­tes Detek­tor-Radio­ge­rät zum Selbst-Bau inklu­diert. In kür­zes­ter Zeit lern­te ich Schalt­plä­ne zu ent­zif­fern und zu zeich­nen, Funk­tio­nen zu begrei­fen. Und ich bas­tel­te mei­nen Detek­tor selbst, ohne dass mir irgend­je­mand dabei gehol­fen hät­te! Natür­lich war der Detek­tor kei­ne Kon­kur­renz zum “Eumig”, aber mir ging es um das Begrei­fen die­ses ana­lo­gen Mecha­nis­mus in des­sen Mit­tel­punkt ein Kris­tall stand. Und die­ser Kris­tall strahl­te und über­strahl­te mein gan­zes Leben.

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