Ein wirklich heißer Sommertag. Irgendwo zwischen Mürzzuschlag und Neuberg an der Mürz. Strahlend blauer Himmel. Berge. Grate. Wände. Scharf gezeichnet. Vereinzelte Bäume, dann Wälder. Die Geleise einer Schmalspurbahn schlängelten sich der Landstraße entlang, verschwanden manchmal irgendwohin, tauchten urplötzlich wieder auf, querten unbeschrankt die Straße. Ein erfrischend kühler Gebirgsbach namens Mürz bahnte sich mit ungebrochener sanfter Macht den Weg zum Meer und bahnt sich diesen noch immer. Drei junge Männer im Puch-Kleinwagen unterwegs auf der Suche nach geeigneten Gastspiel-Orten. Sie kamen geradewegs aus Neuberg a.d. Mürz, hatten einen möglichen Spielort besichtigt: Einen größeren Wirtshaussaal, ein Podest, Stromanschlüsse, Möglichkeiten einer Garderobe zum Ankleiden und Umziehen. Claus Homschak, der beratende Haus- und Hofregisseur des “Jungen Theaters”, damals noch Regie-Assistent an den Vereinigten Bühnen Graz, hatte an alles gedacht. Die Bühnenbilder waren nur stilisiert, bestanden aus Wechselrahmen, waren in wenigen Sekunden der Verdunkelung zu ändern, so ähnlich liefen auch die Kostümwechsel. Oder der Wechsel von Beleuchtungseffekten. Dafür war ich zuständig. Ich war alles gleichzeitig: Der alte König am Nachmittag oder der Träger der Hauptrolle des Abends, der Kreator der “Blitze” mithilfe eines analogen Serienschalters und einer Vielzahl von aufflammenden Glühbirnen. Da saß ich in vollem Königs-Kostüm und drehte hinter den stilisierten Kulissen in rasender Geschwindigkeit den Serien-Schalter für die Blitze, “je schneller desto Blitz” lautete die Devise! Beste zeitgemäße österreichische Provinz-Schmiere! Das übliche “Vorsprechen” hatten wir nach unserer bestandenen Ausbildung bereits erfolglos hinter uns gebracht. So viele Bühnen gab es damals nicht. Ohne Subventionen hätte es keine Theater gegeben. Daran hat sich bis heute nichts geändert. Klar. Das alte ehemalige “Hinterland”, wie das sagenumwobene Mährisch-Ostrau, war im Ostblock verschwunden. Damit waren die Chancen des praktischen “Erfahrens” für normale Schauspiel- oder Regieschüler auf Null gesunken. Also trugen wir uns mit dem Gedanken, ganz einfach selbständig zu werden. Dieter Dorner und ich schauten uns nach Spielorten innerhalb von Graz um. Das war gar nicht so einfach. Da fanden wir eine alte ehemalige Glockengießerei in der Grazer Münzgrabenstraße. Aus diesem historischen Betrieb mit dem Umfeld einer Metall-Gießerei müßte man nur eine Theater-Betriebsstätte machen. Kein Problem. Fantasie war gefragt. Immer wieder schauten wir uns diesen Keller an. Alles mögliche fiel uns ein, nur zum Thema “Gießerei zu Kellertheater” fehlte die architektonische Fantasie. Schließlich landeten wir dann doch im bekannten “Heimatsaal” unterhalb des Grazer Schloßbergs. Wir ließen uns aber die Möglichkeit offen, etwa im Schloß Eggenberg zu spielen oder im Meerscheinschlössl. Wir begründeten also das “Junge Theater” und bekamen auch prompt jemanden vorgesetzt mit dem wir keinesfalls einverstanden waren. Einverstanden wären wir nur mit Claus Homschak gewesen, der dann mit dem großen Erfolg von Carlo Goldonis “Diener zweier Herren” im Planetensaal des Schlosses Eggenberg die Leitung unseres “Jungen Theaters” übernommen hatte. Das Ambiente dieses Saals bezogen wir im Spiel um den “Diener” mit ein. Spiel im Spiel sozusagen, das heißt, wir stellten auch die Vorbereitungen der einzelnen Darsteller zum jeweiligen Auftritt dar. Natürlich wurde dadurch die Dynamik gesteigert. Zwei Etagen unter uns befand sich der Schlosspark. In unserem Rücken. Aus dem Park waren hin und wieder die Schreie der Pfauen zu hören – auch das wurde ins Spiel einbezogen. Das Publikum nahm an drei Seiten Platz. Unser Wirkungskeis bezog sich also auf 270 Grad. Ausserdem spielten wir auf jahrhundertealtem barocken Parkett! Der Erfolg war vorprogrammiert. Als ich das erste Mal den Planetensaal betrat, zog es mich gleichsam in die Mitte des Saals und ließ mich verstummen und verharren. Ich begriff, dass ich lange Zeit benötigen würde, um mich planetarisch heimisch zu fühlen. Und dieses “heimisch fühlen” benötigte ich – benötigten wir wiederum, um darstellen zu können. Genauso erging es Dieter und Claus. Claus schlug sofort drei Tage Probenzeit hinzu, als er befühlte, was da auf uns zukam. Und tatsächlich: Jedes Detail des Saales, alle sieben Planeten von damals, wurden von uns aufgenommen, diskutiert, besprochen. Was wir nicht begriffen, wurde beblödelt. Das blieb nicht auf Planeten beschränkt, das reichte bis zur offensichtlichen Nikotinsucht der Hirschen im Graben des Schlosses. Das Umfeld der eindrucksvollen Barock-Anlage, die einzigartige Stimmung des Planetensaals, alles das kam erst nach den Proben mit der Première des “Dieners zweier Herren” voll zur Geltung, wertete Spiel und Spielort wechselseitig auf. Dieses Licht des Barock wurde erst Jahrzehnte später wieder entdeckt und aus der Verdrängung, dem “Vergessen”, geholt.
Dem “Diener” und dem Planetensaal verdankten wir überaupt unseren Ruf. Eine bekannte österreichische adelige Familie lud uns ein in ihrem Schloss Waldstein bei Deutschfeistritz eine exklusive Privatvorstellung zu geben. Da dem Schloss auch ein Sägewerk angegliedert war oder ist, sei das Errichten einer Bühne kein Problem. Es sei alles da, was wir bräuchten. Und es war auch so. Der “Spiel”-Hof war ein äußerst romantischer rosenbewachsener Innenhof, in dessen Zentrum ein Naturbrunnen plätscherte, der nicht abzustellen war, was wir durch etwas höhere Lautstärke zu kompensieren wußten. Die Bretter aus denen die Bühne bestand ruhten auf Betonpyramiden. Sie ruhten. Sie waren nicht befestigt. Was zur Folge hatte, dass sich das eine Ende hob, wenn man das andere in seiner Ruhe störte. Unsere jugendliche Improvisationsgabe ließ uns auch dieses Auftrittsgepoltere rasch ins Spiel einbeziehen, was für heitere Momente sorgte. Die Mondrakete allerdings schoß Kollege Harald Perscha ab, der wutentbrannt den Kiesweg entlang seinem Auftrittsgepoltere entgegenlaufen sollte und mit gezücktem Florett auf die Bühne zu springen hatte. Besser beschrieben: “hätte”, denn zusätzlich zum Gepoltere gab es urplötzlich einen überlauten Krach berstenden Holzes und Harald steckte bis über seine Knie in der Bühne fest. In einer einzigen Sekunde war die Bühne leergefegt. Kolleginnen und Kollegen hockten oder lagen in den Rosensträuchern und prusteten und lachten ohne Ende. Aus dem Publikum hörte man ein einziges lautes Wiehern, minutenlang. Das Chaos hatte alle erfasst. Harald stand versteinert mitten drin, war eingefroren verdattert in der Bühne und schien die Welt rund um sich herum nicht mehr zu begreifen. Es half nur noch das Ausklingenlassen der Situation, das Herausziehen Haralds, die wenigen beinahe erschöpften Worte Dieters, unseres “Dieners”: “Meine Damen und Herren, trotz allem – es geht weiter!” Damit hatten wir jene darstellerische Reife erreicht, von der wohl viele unserer Kollegen auch heute noch träumen. Die Vorstellung damals wurde erfolgreich zu Ende geführt. Mit einem nicht-enden-wollenden Beifall verabschiedete uns das Publikum. Es sagte uns ein “Danke” für einen tatsächlich unvergesslichen Abend im Schloss Waldstein. Es gibt sie, die Momente in denen Darsteller und Publikum eins werden und sind. Für uns junge Theatermenschen bedeutete dieser Abend ein Erlebnis, welches tief unter die Haut gehen musste.
Das “Junge Theater” bestand damals aus Eva Schäffer, Elisabeth Wondrak, Barbara Schemeth, Christl Wallner, Erich Göller, Dieter Dorner, Sepp Gartlgruber, Karl Absenger, Kollege Haindl – an seinen Vornamen kann ich mich leider nicht erinnern, Erhard Koren, Gerhard Printschitsch – der kurz darauf hinter der ostdeutschen Mauer verschwand – und viele andere, deren Namen mir nicht mehr geläufig sind, weswegen ich mich bei ihnen auch entschuldigen möchte. Aber zurück zu der Fahrt an diesem heißen Sommertag den Oberlauf der kühlen erfrischenden Mürz entlang. Die Fenster des 500er-Puch waren ganz heruntergekurbelt, die Dreiecksfenster so ausgestellt, dass der kühle Fahrtwind uns wenigstens ein wenig Erfrischung bot.Wir litten still vor uns hin. Kein Laut kam über unsere Lippen. Die zahllosen Fahrgeräusche übertünchten das leise Hitze-Stöhnen. Ich hatte es noch am Besten auf Grund meiner Mitfahr-Eigenschaft auf der hinteren Bank. Ich konnte mich wenigstens ausbreiten, mich “hinflegeln”. Harald Perscha, unserem Chauffeur, reichte es sehr bald. Er fuhr links in die Almwiese, stellte den Motor ab, riss die Fahrertüre auf, und stürmte mit dem Ruf “Mir reicht´s” auf die kühlende Mürz zu. Wir hinter ihm her. Runter mit dem “G´wond” (Gewand) und hinein ins erfrischende glasklare Nass. Oh, wie war das belebend! Wir saugten das Nass in jede Pore, wir kühlten die Hitze an jeder Strömung, mit den Händen wühlten wir jede Stauung des fließenden Wassers hoch. Das Leben explodierte in uns. Wir krabbelten wieder ans Ufer, sammelten unser “G´wond” auf, liefen nackicht über die Almwiese zum Auto, rissen in Ermangelung von Handtüchern die Decke von der hinteren Sitzbank und begannen uns abzutrocknen. Halb bekleidet setzte sich Harald hinters Lenkrad. Wir taten es ihm nach, verstauten uns selbst halb nass auf unsere Sitze und ab ging der 500er Richtung Graz. Wir rasten über den unbeschrankten Bahnübergang – auf die halt-gebietende Hand eines grau-uniformierten Gendarmeriebeamten zu. Wir duckten und verkrümmten und verrenkten uns, zogen rasch irgendwas in erreichbarer Nähe über unsere Blößen, taten so, als ob es uns noch heiss wäre. Drei junge Männer splitternackt in einem Auto! Wenn das nicht ein Fall von öffentlichem Aufsehen, Erregung öffentlichen Ärgernisses wäre! Wir redeten und beklagten und jammerten und das Wunder geschah: Ohne abgestraft zu werden durften wir nach Hause fahren, heim nach Graz!
Ein sehr langer Weg war es auch welchen ich gehen mußte seit jener Zeit als nicht nur in der Grazer Herrengasse eine Unmenge an Mitbürgern die Strassenseite wechselten, wenn ihnen ein fremdländischer Soldat mit fremdländischer Hautfarbe entgegenkam, als in der Jungferngasse noch das “Panoptikum” oder “Panorama” existierte. Für einen österreichischen Nachkriegs-Schilling durfte man sich da uralte Postkarten über einen Operngucker anschauen. Ich fühlte mich in dieser Lokalität um Jahrzehnte zurückversetzt. Sogar der Geruch der Möbel-Politur ließ mich die Vor-Kriegszeit erahnen. Dieses Lokal schien die Kriegs- und sonstigen Wirren unbeschädigt überstanden zu haben. In der Mitte des Raumes war ein sich im Kreise drehendes Vieleck aufgebaut. Alle paar Minuten gab sich dieses Vieleck einen Ruck und ruhte dann, um dem Betrachter die Chance zu bieten, sich das Bild genauer anzusehen, bevor mit dem nächste Ruck das Bild wieder wechselte. Vor diesem “Bilder-Halter” befand sich ein starrer Dekor-Verbau in Form eines weiteren Vielecks mit eingelassenen Opernguckern in jedem der Sektoren. Es war so etwas wie das Kino für die Ärmsten. Ein Guckkasten-Kino um einen Schilling! Jeden Freitag wurde thematisch gewechselt. Mich hat besonders die Adria-Region beeindruckt, die Mauern von Dubrovnik sehe ich noch vor mir, die Palmen-Promenade von Split mit dem Palast des Diokletian. Die Bilder, die ich mit Interesse beäugte stammten alle noch aus der Monarchie. Das schloß ich aus der Mode welche die Damen trugen, aus der Art der Segelschiffe und aus den seltenen Autos auf un-asphaltierten Strassen. Auf der gegenüber liegenden Seite des “Panorama”, jener Seite der Jungferngasse deren Fassade um ein paar Meter nach vor sprang und die Jungferngasse verschmälerte, befand sich genau in dem Hause, welches die Gasse so verengte, ein Wirtshaus mit dem Schild “Zur schiefen Laterne”. Auf dem Schild war auch eine Laterne abgebildet, ganz schief und im Zick-Zack gezeichnet. “Geht´s duat net eini!” wurden wir immer wieder gewarnt (“Geht dort nicht hinein!”). Natürlich hatte ich dieses Wirtshaus nie betreten, ich getraute mich nicht einmal in die anschließende Frauengasse. Denn dort war es dunkel und eng und schmal! Das Wirtshaus und die ganze folgende Gegend war mir zu unheimlich. Ich weiß bis heute nicht, warum eigentlich. Vielleicht wegen der Warnungen, obwohl gerade diese normalerweise die Neugierde weckten. Das einzige was mich beeindruckte war das “Panorama” dort.
Es war tatsächlich ein langer Weg bis hin zum “Jungen Theater”. Und doch war dieser lange Weg so unvorstellbar kurz. Er war ausgefüllt mit erstmalig Erlebbarem und deswegen auch Erfülltem. Die Erfahrung, dass heranwachsende Jugendliche sich überhaupt nicht als konsumierendes Publikum sehen wollen, sondern mit “tun”, mitreden, mit-agieren wollen, andererseits still sein, sich hingeben, sich bereitwillig fesseln lassen wollen, dass man als Darsteller die Spannung fühlt, welche junge Menschen gleich von Beginn an in den Saal mitbringen, alles das machte uns erfahrungsreicher. Und freute uns. Zumindest mich. Da taten sich wieder Zusammenhänge auf zwischen den Hartberger Erfahrungen, zwischen den abendlichen Kontrollgängen auf Schloss Neuberg und den Diskussionen und den Erlebnissen mit Heranwachsenden in den Theatersälen. Es gab kaum einen Unterschied zwischen jenen im Schloss in der Ost-Steiermark, zwischen jenen in Graz und denen in Bruneck oder Kaltern oder Meran oder Bozen oder irgendwo anders in Südtirol, sie waren ident und blieben für mich prägend. Schon damals war es für mich selbstverständlich, dass man einem sogenannten Erwachsenen nicht mehr weiterhelfen konnte, dass ausschließlich Heranwachsende absolute Priorität verdienten. Sie waren es ja, die in jener Welt weiter existieren mussten, die ihre Vorgänger aufgebaut hatten und haben – und jene Welt ist gleichzeitig diese Welt. Wir haben nur die Eine. Diese Eine muss auch uns ertragen. Je digitaler und vernetzter wir Analogiker werden, desto offensichtlicher wird es. Vor vielen analogen Jahren – in den Jahren, in denen ich aufgewachsen bin und in denen sich ein großer Teil meines Lebens abgespielt hat, inklusive den Jahren des Theaters und des Monopolbetriebes ORF – in diesen Jahren hatte “man” noch viel Zeit, um Probleme zu lösen, später einmal. Heute weiß “man”, dass “man” sich viel zu viel Zeit gelassen hat, Jahrhunderte lang. Ewigkeiten. Und wie kurz ist eine Ewigkeit.
Aus dieser meiner Einstellung habe ich auch nie ein Hehl gemacht. Ob es Moderationen beim ORF waren oder bei den Hunderten Veranstaltungen, die noch so nebenher liefen. Daran hat sich bis heute nichts verändert. Die Wurzeln liegen im Schloss Neuberg bei Hartberg in der Ost-Steiermark. Dazu kommen die vielen Erkenntnisse eines erlebten Zeit-Abschnitts. Menschen, die glauben “erwachsen” zu sein, bauen etwas auf, das man später wieder korrigierend abbauen muss, ohne bleibenden Schaden zu verursachen. Der Verbrennungsmotor soll ein Beispiel sein. Oder die Dampfrösser der Eisenbahn, oder die Windkrafträder, bei deren Aufbau heute schon der Abbau einkalkuliert werden muss. Die Menschheit bekommt immer wieder solche Abbruch-Werkzeuge in die Hand. Was die jeweiligen Heranwachsenden in Zukunft bestehen lassen werden, ist jener Teil, mit dem die Welt leben kann. Und genau auf dieses Können kommt es an. Den Zwang, das Muss kennt unsere Existenz nicht, das ist das Positive an der Digitalisierung und kommt erst zum Tragen, wenn die “Künstliche Intelligenz” oder “Artificial Intelligence” oder wie immer man diesen Bereich benennen wird, sich selbst von allen Unsauberkeiten bereinigt hat, wenn der Mensch von allem “Lästigen” befreit wird. Nur muss er erst erlernen, was tatsächlich “lästig” ist. Traditionelles “Autofahren” etwa. Damit verbunden ist der Aufbau eines kompletten neuen anderen Wirtschaftssystems. Jedenfalls bekam ich bei den diversen Events nur von jenen Erwachsenen negatives Feedback, welche bei den monarchischen Geschichtsfälschungen der Kolonialzeiten hängen geblieben zu sein schienen und noch immer scheinen. Und das waren verschwindend wenige.
“Pass auf!” ließ sich die ruhige sonorige Stimme im Dunkel der Hinterbühne vernehmen, nahm mich am rechten Oberarm und zog mich zu sich. Gleichzeitig leuchtete die Taschenlampe gegen die Wand, von der zwei armdicke Kabel in unsere Richtung baumelten. Mit blanken Kupferenden. “Oh” hörte ich mich. Zu mehr reichte mein Schock nicht. Oh doch, ich kann mich noch erinnern mich da durchzuckte: Italien! Dieser stille Seufzer verbunden mit den Gedanken an die Elektro-Installationen zu dieser Zeit in diesem Land füllte meine erlebnisreiche Tournee um eine Erfahrung dichter. Es war schließlich mein zusätzlicher Part auf dieser Reise: die komplette Bühnen-Beleuchtung! Die Kabel, welche da aus der Wand hingen, baumelten aus der Bühnen-Wand des wunderschönen Stadt-Theaters von Meran. Der Oberbeleuchter, der mich unterstützte, schien allerdings nicht gerade großes Vertrauen in die Arbeit seiner Kollegen gehabt zu haben. Jedenfalls waren die Kabel “tot”, also stromlos geschaltet. Sonst wäre ich kaum noch fähig, diese Zeilen zu schreiben. Diese erste Tournee war für uns alle ein wahres Erleben! Um ehrlich zu sein, jeder Tag war für uns eine gefühlte Hauptprobe, nachmittags “Prinzessin Wunderhold” gefolgt von der Boulevard-Komödie “Flitterwochen”. Studienreise mit Hauptproben vor Publikum, so würde ich diese Tournee bezeichnen. Bis dahin hatten wir immerhin schon gelernt und erfahren, dass wir mit unserer jeweiligen Darstellung unseren Partnern jedes Mal die Chance geben, auf uns zu reagieren. Je intensiver die Aktion, desto besser war auch die Re-Aktion und damit stieg der Eindruck beim Publikum. Jeder Halb-Satz, jeder Begriff, jede Geste und Bewegung reifte diesbezüglich heran. Und letztlich wurden wir als Ensemble immer verschweißter, erfolgreicher. Die ganze Tournee-Gruppe hätte nie aufhören wollen zu spielen. Es hätte ewig so weitergehen können. Wir lernten, die Grenzen der Charaktere kennen, wir lernten, diese Grenzen zu füllen, wir erfuhren, wie weit wir diese Chancen dehnen, wie lange wir Spannungen, welche auch immer, halten durften. Das täglich wechselnde Publikum stellte uns zusätzlich vor Herausforderungen. Die täglich wechselnden Grenzen begannen unserem Leben Sinn zu geben. Sie gehörten bereits zu unserem Alltag, waren und sind Selbstverständlichkeit.Aus dieser Zeit stammt auch mein lebenslanges äußeres Markenzeichen, welches ich bis heute mit mir umhertrage. Konkret verdanke ich es Kurti Malik, Nachbar und Jugend-Begleiter, Theaterfriseur und Maskenbildner. Wer hat in diesen Jahren schon einen Bart getragen?! Als Markenzeichen noch dazu?! Nur jene, welche etwas zu verbergen hatten, so flüsterte man sich zu. Und das Flüstern hielt bis zu den Anfangsjahren von Ö3 an. Ich wäre damals in unseren Tournee-Zeiten nie auf die Idee gekommen, als Revoluzzer verschrien zu werden. Da wir im Sommer in Süd-Tirol unterwegs waren, mit wärmeren Temperaturen zu rechnen war und damit auch das Risiko stieg, dass meine Gesichts-Haut mit den Konsequenzen des traditionellen Mastix-Klebers für den Märchen-Bart des Nachmittags und des Boulevard-Abends fertig werden musste, gab Kurti mir den Rat, einen echten Bart stehen zu lassen, damit würde ich allen Problemen aus dem Weg gehen. Für den Nachmittags-Bart gab er mir noch einen Spray mit, der den Bart weiß und grau erscheinen und mich gleich um einige Jährchen älter werden ließ. Nach dem Märchen hatte ich nur Haare und Bart zu kämmen und zu bürsten, und schon war ich fast fertig für die abendliche Architekten-Rolle. Und so blieb es auch. Für die Dauer meines Lebens. Augenblicklich ist es ein ewiger Fünf-Tages-Bart.
Für die Dauer meines Lebens hat sich auch ein Erlebnis eingeprägt, welches sich auf immer und ewig mit dem schönen Meran verbinden wird. Und Meran war damals wirklich noch schön. Untergebracht waren wir in einer alten hochherrschaftlichen Villa mit großem und vor allem sehr hohen Speisesaal. Diese ganze Villa, inklusive der Gästezimmer, war tapeziert mit Gemälden, da war beinahe kein Quadratzentimeter pure Wand frei sichtbar. Bild reihte sich an Bild, Porträt neben Stillleben, Grafik neben Aquarell und Öl, Altes neben Moderne. Mittendrunter wurden wir hineingesetzt. Zum Mittagessen. Gleich im Anschluss an mein theaterliches Kabel-Erlebnis. Faszinierend fand ich die großen silbrigen Parmesan-Behälter, bis an den Rand gefüllt. Damals schon war ich ein bemerkenswerter Fan dieses italienischen Würzkäses. Folgerichtig freute ich mich auf den Hauptgang. Was auch immer mir vorgesetzt wurde, ich nahm mir vor, mit dem Parmigiano nicht zu sparsam zu sein. Niemand von uns wusste genau, was da auf uns zukommen sollte. Schriftliche Hinweise auf das Menü fehlten. Warum und wieso – daran kann ich mich nicht mehr entsinnen. Erinnern kann ich mir nur daran, dass wir Fisch vorgesetzt bekamen. Klar, das Meer war nicht mehr weit entfernt. Ich träumte davon, von mehr Meer und einem ganzen Apennin voller Parmigiano. Ich war “nella paese della sole”, ganz Italien lag vor meinem geistigen Auge auf dem Mittagstisch. Der köstlich zubereitete Fisch versank in einem Meer von Parmigiano, irgendwo da drunter dümpelte der vormals köstlich zubereitete Fisch. Ich hingegen versank in einem Meer aus Scham, Peinlichkeit, Blamage und Einsicht. Denn hinter mir stand die Chefin des Etablissements und wies den jungen Mann aus der Steiermark vor sich mit lauter und fester Stimme in die Italienische und Südtiroler Esskultur ein. Fisch und Parmesan! Hoch erregt ging sie von dannen, kopfschüttelnd. In Richtung cuccina, um ihren Frust dann dort abzuladen. Ich blieb zurück mit hochrotem Köpfchen, im Aufmerksamkeits-Mittelpunkt des kompletten Speisesaals, vor mir das Gebirge aus Parmigiano und tief im Inneren verborgen ein wenig Fisch, optisch als solcher zu identifizieren, geschmacklich war das Ganze eher Würzkäse mit ein wenig Bratensaft.
Was der Griff nach dem Parmigiano in Meran, war in Kaltern der Griff in die Soffitten. Unter Soffitten verstand man damals Glühlampen in verschiedenen Farben, die in Serie geschaltet wurden und zum Grundlicht einer Bühne zählten – auch für den Notfall. Angebracht waren diese Soffitten am unteren vorderen Bühnenrand, sodass Darsteller von vorne unten bestrahlt wurden. Die Versorgung des Soffitten-Lichts erfolgte mit Niedrigspannung. Nach damaligen italienischen Richtlinien der Installation war also alles in Ordnung. Man verließ sich damals noch auf das all-umfassende Wissen der Bürger. Ich stand im Zuschauerraum um, wie jeden Tag, zu überprüfen ob irgendwo ein sogenanntes “Lichtloch” festzustellen sei. Zu diesem Zwecke wurde klarerweise “volle Kraft” gegeben. Und tatsächlich. Ich entdeckte ein solches Löchlein. Zu diesem Zeitpunkt war ich die einzige Seele in diesem Theater, meine Kolleginnen und Kollegen saßen schon beim Essen und genossen wahrscheinlich bereits die berühmte “Kalterer See Auslese”. Ich stand also da im Zuschauerraum, dachte an meine Kolleginnen und Kollegen, an das Essen und an das Lichtloch. Warf alles weit von mir, alles, was ich jemals erfahren hatte bezüglich Licht und elektrische Spannung, nahm einen Anlauf, stürmte durch den Mittelgang des Zuschauerraums, griff mit Schwung in den Soffittenkasten vor mir und landete mit Schwung leibhaftig auf der Bühne. Wirklich leibhaftig: Mir wurde ein Schlag versetzt, wie ich ihn noch nie erlebt hatte. Mein Herz begann zu rasen, jeder einzelnen Zelle der Nerven wurde ich bewusst, mein Puls pochte außerhalb meines Körpers. Von Lampe zu Lampe in den Kästen der Soffitten spannte sich blankes Kupfer! In dieses Kupfer hatte ich ahnungslos gegriffen. Wahrscheinlich verdankte ich nur meinem großartigen Anlauf und dem dadurch erreichten Schwung die Landung auf der Bühne des Kalternschen Kulturzentrums und kurz darauf das wohlverdiente Essen und Trinken unter unsäglichem Nerven- und Herzflattern. Auch dieses verbindet sich lebenslang mit Kaltern in Südtirol, dem südlichsten Punkt unserer Tournee. Am Ende dieser Arbeitsreise quer durch Süd-Tirol war ich im wörtlichsten Sinne aufgeladen. Voll von Hochspannung. Bis sich alles wieder normalisiert hatte, dauerte es einige Wochen.
Dabei hatte alles so schön und angenehm begonnen. Am Vortag hatten wir den Mercedes-Kleinbus beladen. Mit unseren Kulissen, mit den Kostümen, mit der kompletten Elektrik. Die Dachgalerie hatten wir bereits wettersicher abgedeckt. Wir waren abfahrbereit. Nur unsere persönlichen Utensilien fehlten noch. Kleinbus und Fahrer hatten wir seitens der steirischen Landesregierung zur Verfügung gestellt bekommen. Wir waren auch sehr dankbar dafür. Wie dankbar wir waren, stellte sich erst während der Tournee und danach heraus. Leider kann ich mich an den Namen unseres Chauffeurs, Reiseleiters, Papas, und wie auch immer wir ihn bezeichneten, überhaupt nicht mehr erinnern. Fotos gibt es genauso wenige. Jedenfalls stellte er uns seine ganze Erfahrung und nicht nur die autofahrerische zur Verfügung. Er war ein routinierter, älterer Herr. Wir fühlten uns bei ihm bestens aufgehoben. Er war auch technisch versiert, ging uns zur Hand, er war der Papa für alles! Im Morgengrauen des nächsten Tages fuhren wir los. Auf ging es, nach Süd-Tirol.Gerade zu jener Zeit welche man etwas später als “Bumser-Zeit” benannte, fuhren wir los. Zu jener Zeitspanne also, wo in diesem schönen Süd-Tirol von irgendwelchen Mit-Menschen die Masten von Hochspannungsleitungen gesprengt wurden und Verunsicherung gesät wurde. Uns sollte das aber nicht stören, wir brachten schließlich den Frieden mit! Zu dieser Zeit lief auch der berühmte “Südtirol-Prozeß” im Landesgericht zu Graz an. Nicht weit von meinem ursprünglichen zu Hause. Dort fand auch der Nachkriegs-Hungerstreik aus Band 1 meiner Memoiren statt (Der Aufstand der Gefangenen – S 165). Wir fuhren also voller Vorfreude los. Damals gab es als höchstes der Gefühle nur “Bundesstraßen”! Über den Packersattel ging es nach Kärnten, den Wörthersee entlang nach Villach, Spittal an der Drau, Lienz nach Sillian. Knapp dahinter erwartete uns “Bella Italia”! Es muss schon ziemlich spät gewesen sein, aber immerhin schien noch etwas Sonne. Wir erreichten die Grenze zu Italien und da es die berühmte und berüchtigte “Bumser”-Zeit war, wurden wir demzufolge hinaus gewunken aus der wartenden Kolonne der Grenzabfertigenden. Zusätzlich wurden wir umringt von ein paar bewaffneten Uniformierten, wir mussten aussteigen, jeder Einzelne wurde gemustert, abgetastet. Als die Uniformierten entdeckten, was wir alles mit uns nach Italien zu nehmen gedachten, mussten wir jedes Kostüm, jede Kulisse, aber vor allem jede einzelne Kabeltrommel Meter für Meter ausrollen, jeden einzelnen Schalter zur Überprüfung bereitlegen, jeden Scheinwerfer, jede Glühlampe, jeder Koffer musste geöffnet werden, jede Unterhose überprüft, jede Socke. Dann kamen noch zwei mit Teleskopstangen, an deren einem Ende Spiegel befestigt waren. Mit diesen Stangen überprüfte man außerdem den Unterboden des Kleinbusses. Die Innenverkleidung ließen die Prüfer allerdings ungeschoren. Wir waren verzweifelt, fügten uns aber in das Unvermeidliche. Zu diesem Zeitpunkt hatten wir nicht die geringste Ahnung über die Existenz der “Rattenlinie”, wobei Brixen und Meran eine wichtige Rolle spielten und welche auch von der CIA genützt und benutzt wurde. Dass die “Erklärer” des Weltgeschehens, wie etwa Vinzenz Ludwig Ostry, den Hörerinnen und Hörern von damals so etwas verschwiegen, ist verständlich, dass aber spätere Erklärer, wie etwa Hugo P., bei diesem Verschweigen blieben, kann ich ihnen nie verzeihen: Bis heute haben sie sich der Öffentlichkeit gegenüber nicht entschuldigt. Als wir damals am Grenzübergang Österreich/Italien begriffen hatten, wem das alles zu verdanken war, schauten wir uns lediglich wortlos tief in die Augen. Wir schüttelten weder den Kopf, noch taten wir auch nur irgendetwas Protestliches. Es war uns klar, dass wir alles tun müssten, um so etwas und Ärgeres auf unserem Kontinent in Zukunft zu vermeiden. In “unserer” Zukunft.
Und diese Zukunft ist bereits Gegenwart. Heute, 2019. Mit meiner Gattin fuhr ich in diesem Jahr die beinahe idente Strecke über die bereits bestehenden Autobahnen nach Bruneck, wo wir damals unsere erste Aufführung im Rahmen der Süd-Tirol-Tournee hatten. Das Schicksal wollte es, dass ich in diesem Jahr 2019 ahnungslos in einem Schlosshotel namens “Sonnenburg” buchte. Ich wusste noch nichts von der Ähnlichkeit der Umstände. Daran änderte im Übrigen ein Hinweis von Peter Altersberger nichts, langjähriger Mitarbeiter des ORF-Studios Kärnten und der RAI, Studio Bozen. Zur Tourneezeit hatte ich auch noch keinerlei Ahnung von der Familie Knötig, die sich zeitgleich vorgenommen hatte, diese verfallende Ruine zu restaurieren und zu renovieren und daraus ein Schlosshotel zu machen. Da gab es also in jenen Tagen in diesem Süd-Tirol zwei Menschen, welche im ganz Kleinen und doch Großen zeitgleich jene Gedanken fortsetzten, welche uns damals am Grenzübergang bei den vielen Kontrollen und Überprüfungen durchschossen. Zu jener Zeit schlichen wahrscheinlich irgendwelche dunkle Gestalten durch den dunklen Tann und suchten nach sprengwürdigen und für die Öffentlichkeitsarbeit geeigneten Objekten. Jeder der Akteure, auch wir kleinen Steirerlein, standen damals vor seiner und unserer Zukunft, einer Zukunft, die bereits Gegenwart geworden ist.