Ich ging noch nicht zur Schule, da machte ich schon bei Preisausschreiben mit, bei Gewinnspielen. Einmal gewann ich einen “Rondo”-Ball, entweder war das ein Fußball aus Kunststoff oder ein Handball. Rot war er jedenfalls und in einer Art Quadrat stand “Rondo” zu lesen, soweit konnte ich Schrift bereits entziffern. Ohne noch in die Schule gegangen zu sein. Kunststoff war Ende der 1940er Jahre besonders “in”, ein Zeichen für Fortschritt. Wobei die Produzenten selbst nicht wussten, in welche Richtung. Nur die Richtung des Werteflusses kannten sie schon, klar. Von der Geldbörse in die Kasse. Das war das Wichtigste. Und dann gewann ich eine Fahrt nach Vorarlberg. Kurz vorher hörte ich, wie der Vertreter einer Firma zu meiner Mutter sagte: “Des mouch ma schou, Frao Nöll, jou des ischou in Ourdnunk!” (Grazerisch für: Das machen wir schon, Frau Nell, ja, das ist schon in Ordnung.) Dass Vorarlberg zu dem Land gehörte, in dem ich aufwuchs, wusste ich schon. Dort sollten außerdem Franzosen sitzen, das hörte ich wiederum von den Erwachsenen. Und das verstand ich wiederum nicht ganz, denn bei uns saßen ja Engländer. Sei es, wie es sei: Ich hatte also diese Fahrt gewonnen, so wie es der Herr Vertreter geweissagt hatte. Ich bekam ergo einen Brief von der Firma Suchard, dessen Schokolade ich ja hin und wieder verzehrte, und durfte mich zu den stolzen Gewinnern zählen, wozu man mir gratulierte!
Der Tag der Abreise kam näher, die Erregung und Nervosität stieg. “Ganz in der Früh” solle ein Sonderzug von Graz wegfahren, sagten mir meine Eltern und dass ich nicht alleine sei, es hätten in ganz Österreich so und so viele gewonnen. Irgendwo auf der sogenannten “Weststrecke”, ich nehme an in Salzburg, würden wir auf die anderen Sonderzüge treffen und dann unter dem Arlberg hindurch nach Vorarlberg fahren, nach Bludenz, wobei wir auch jene mitnehmen würden, die aus Tirol kommen würden. Wir waren wohl einige Tage unterwegs, denn damals ging ja alles viel, viel langsamer und bedächtiger, besonders die Eisenbahn. Da wurden Signale und Schranken und Weichen noch mit der Hand geschaltet und die Loks wurden manuell befeuert. Elektrizität stand nur teilweise zur Verfügung.
Meine Mutter brachte mich zum Bahnhof. Das war ein Trubel und Jubel! Die Gewinner und deren Eltern, Betreuerinnen vom Roten Kreuz, Männer mit großen Lautsprechern in den Händen, Techniker, die irgendwo außen an den Waggons diese Geräte montierten, Eisenbahnbedienstete aller Art, manche davon schwangen riesige Hämmer gegen die Räder, was wiederum hell durch die Luft klang, ein Rufen, Jauchzen, Ärger, der sich Raum schaffen musste, Bussi hin, Bussi her, “Seawass, Widasegn, Baba” (Grazerisch: Servus, Wiedersehen, babá nicht Pápa!). Das alles vermischte sich mit dem Zischen der Lokomotiven und den weißlichen Dampfwolken und dem Surren der durch Akkus betriebenen Wägelchen von Post und Bahnpost und dem leisen aber drängenden Hupen dieser Gefährte. Langsam beruhigte sich das Getümmel. Waggontüren wurden laut zugeschlagen. Die Lokomotive gab einen langen, eindringlichen Pfiff von sich, die Eltern – auch meine Mutter – draußen am Bahnsteig traten zurück, begannen ihre Liebsten zu verabschieden, indem sie feuchte Augen bekamen und winkten und helle Tücher schwenkten. Ich hatte das Glück in dem Sechser-Abteil, das ich beziehen musste, eines der obersten Betten zu ergattern, so, dass ich über die Köpfe der Mit-Reisenden hinweg meine Mutter etwas länger beobachten konnte. Warum wir schon in aller Frühe die Liegeposition einnehmen mussten, entzieht sich meiner Kenntnis. Wir hatten nicht das geringste Schlafbedürfnis. Die Anfangs-Unterhaltung drehte sich jedenfalls um Vor- und Nach-Teile für jeden Einzelnen in unserem Abteil, also ob es für denjenigen, der ganz unten zu liegen kam mehr Vor- als Nach-Teile gäbe, wie es für denjenigen in der Mitte stünde und für denjenigen ganz oben. Ich fühlte mich ganz geborgen hier heroben, über mir gab es nur noch das Waggondach, derjenige unter mir kümmerte mich ja nicht und um von oben wieder hinunter zu kommen, dafür gab es ja die kurze Leiter. Warm war es außerdem und das Fenster konnte man sowieso einen Spalt öffnen, wegen der besseren Luft. Aber das behielt ich für mich.
Die Fahrt war damals eine logistische Meisterleistung, für ÖBB und Rotes Kreuz und natürlich Suchard selbst. Keinen einzigen Augenblick wurde uns langweilig, immer wieder huschten vor dem Abteil Betreuerinnen vorbei. Allen Ernstes: Ich kann mich an keinerlei Klo-Gänge zurückerinnern. Auch nicht an das Gegenteil, an irgendein Essen. Ich kann mich auch nicht entsinnen, dass wir uns umgezogen hätten zum Schlafen, oder dass wir uns wenigstens wie die Katzen gewaschen hätten. Ich kann mich auch nicht erinnern, dass wir jemals eine Durchsage gehört hätten, die über die montierten Lautsprecher gekommen wäre. Obwohl das Schlafen in diesem Waggon fürchterlich wohlig in Erinnerung geblieben ist. Ich fühlte mich wirklich heimelig in diesem Eisenbahnwagen. Das Rattern und Weichen-Schaukeln quer durch Österreich hin und zurück war beruhigend und einschläfernd. Wir Reisenden hatten uns viel zu sagen, viel für uns Wichtiges. Wir hatten ja auch schon ein paar Jährchen an aktivem Leben hinter uns! Und irgendwann wurde es finster in unserem Abteil und die Gespräche verstummten und der Zug ratterte und schaukelte und draußen bimmelte eine Schrankensicherung kurz auf und verbammelte sich wieder und so schliefen wir ein.
Wie das alles die Betreuerinnen und Betreuer gemanaged hatten, ist mir bis heute rätselhaft. Auch an unserem Ziel-Bahnhof in Bludenz lief alles ohne Aufsehen und Aufregung ab. Gleich in der Nähe war die Schololadefabrik, es roch überall nach Suchard und es waren eine Unmenge an Kindern da, sehr gut organisiert, nirgendwo musste ich lange warten. Gegessen wurde offensichtlich in der Werkskantine. Was es war, daran fehlt jede Erinnerung. Ich ging an vielen Maschinen vorüber, ich weiß nur nicht an welchen, irgendwo kamen wir an Behältern mit Kakao-Bohnen vorbei. Wir durften sie anfassen, begreifen, kosten. Dann kamen wir zu Maschinen, die einen Brei in ihren Kesseln hatten und überall duftete es nach Süßem, nach Kakao und Schokolade. So wie ganz Bludenz nach Schokolade roch, manchesmal, das kam auch auf den Geruchsort an, fast schon zu viel. Dann war da ein Band auf dem fertige Tafeln zu sehen waren. Welche das waren, weiß nicht. Ich war wohl noch zu klein. Und so ließ ich mich durch die Fabrik führen. Vollbepackt mit Suchard-Produkten bestiegen wir wieder unseren Sonderzug. Aber der Schriftzug Suchard und Milka hat sich bei uns eingeprägt für ein ganzes Leben. Irgendwann schliefen wir uns heim. Es tat gut, wieder zu Hause zu sein. Aber das Erlebnis Bludenz und Suchard wollte keiner von uns je missen. Wir hatten viel zu erzählen und weiterzugeben. Vor allem die Erfahrung einer Schokoladen-Fabrik und eines Schokoladen-Zuges. Gleich darauf hat es milka-blaue Pappendeckel-Rollen gegeben mit einer Art milka-blauen Zopf zum Öffnen und drinnen war runde Schokolade in der Form von Talern, milka-blau verpackt, es gab dann kleine milka-blaue “Naps”, und als Jahrzehnte später die blaue Kuh auf grünen Almen kreiert wurde, taten wir uns leicht uns mit ihr zu identifizieren.