Es war eine meiner Lieblings-Beschäftigungen. Ich tat es nicht, weil mir langweilig war oder aus Trotz, weil es mir verboten wurde. Ich tat es, weil ich es als interessant empfunden hatte, als anregend. Ich tat es seit frühester Kindheit, seit ich mich überhaupt erinnern kann. Ich stand hinter dem Zugang zu unserem Geschäftslokal, im sogenannten “Magazin”, und lauschte durch die angelehnte Türe hindurch den Gesprächen, ich hörte einfach hin. Abbringen ließ ich mich nur vom anschlagenden Telefon. Dieses war wie ein Krake am Durchgang zwischen Wohnung und Magazin an der Wand montiert und klingelte laut und auch im Geschäftsbereich unüberhörbar. Im ganzen Haus gab es nur unser Telefon. Und auch im Nachbarhaus gab es keines. Ich könnte mich auch nicht erinnern, wo es in unmittelbarer Nähe eines hätte geben können. Nicht einmal der Privat-Bankier im zweiten Stock hatte eines. Weswegen wir auch in Notfällen sehr begehrt waren. Es brachte uns aber auch Verantwortung bei. So nebenbei und ganz still und heimlich. Wie es eben mit dem Fortschritt in den damaligen Zeiten war. Still und heimlich.
Ich verbarg mich also hinter jener Tür, öffnete sie ganz, ganz leise und heimlich nur einen Lauschspalt breit und hörte hin. Wie unsere Kunden erzählten, nicht was sie erzählten. Das Auf und Ab ihrer Stimme fesselte mich, die Tonalität der Stimmen, die Lautstärke, die Ausdruckskraft und der Ausdruck überhaupt. Wenn auch der Inhalt interessant wurde, wenn auch interessant wurde, was da wie gesagt wurde, wenn da irgendwas intensiviert wurde, schob ich leise und vorsichtig den Spalt zum Lauschen etwas breiter, so dass ich die Sprecherin oder den Sprecher auch optisch beobachten konnte. Den Ausdruck in den Augen, die körpersprachlichen Mitteilungen, die synchron liefen zu den akustischen, diese unterstrichen oder abmilderten. Da tat sich mir eine Welt auf, die für die meisten Menschen gar nicht existent war. Meine Eltern taten ihr Möglichstes mir zu erklären, was da bei uns Menschen im Hintergrund ablief. Aber das reichte nicht. Da spielte sich mehr ab, viel, viel mehr. Das spürte ich. Aber viel mehr, als dieses zu spüren, blieb mir nicht. Ich musste mich damit zufrieden geben. Ich konnte mir selbst Reime bilden, denn Aufklärung war nicht zu erwarten, das war es, das Einzige, was ich herausbekam. Viele, viele Jahre später bekam ich mehr Antworten, als es mir lieb war. Aber soweit war ich als Türspalt-Lauscher noch nicht.
Meist waren es Sprecherinnen, die ich da beobachtete und denen ich zuhörte, denn Männer hatten ja bei der “Arbeit” zu sein. Frauen frönten ja der Hausarbeit, schliefen den langen lieben Tag, taten ja Nichts, warteten ja nur auf den lieben Mann, um mit ihm gemeinsam noch etwas zu essen und dann mit ihm ins familiäre Bett zu gehen. So schien es zur damaligen Zeit zu sein. Handwerker, Rauchfangkehrer, Postboten, Handlungsreisende, Zusteller, Lieferanten, Messerschleifer etc. waren da schon die Ausnahme, die gehörten zu den Sprechern, welche zwischen den beiden Welten unterwegs waren, zwischen der Arbeitswelt und der zu-Hause-Welt. Sie hatten auch immer Interessantes zu erzählen. Aus ihrer Berufswelt, manchmal auch Privatimes, manchmal auch Geschehnisse aus dem privaten Bereich von anderen. Es wurde geredet. Das bekam ich schon mit. Und wie da geredet wurde! Mit sehr viel Engagement. Geredet und getratscht, über jemanden hergezogen, jemanden schlecht gemacht oder als Vorbild hingestellt, gelobt. Gerüchte beherrschten unsere Welt. Und was eignete sich besser, als so ein Geschäftslokal wie das unsrige, um irgendetwas Nicht-Wahres in die Welt zu setzen. Es gab Kunden, die über alles etwas zu erzählen wussten, die sozusagen promoviert waren in Gerüchtekunde. Ich erkannte sie alle alleine schon an der Stimme. Das war auch der Moment, in dem die Inhalte langsam immer spannender wurden. Die Umgebungen in denen etwas geschah wurden vertrauter, immer großflächiger. Erst war es die unmittelbare Nachbarschaft, dann die angrenzenden Wohn-Viertel, die ganze innere Stadt und schließlich das ganze Land. Bis zum Semmering und zum Wechsel und zur burgenländischen Grenze. Über den verbliebenen Rest redete man nicht. “Der Rest ist Schweigen” war ein beliebtes Zitat. Und es blieb ein solches, sehr lange Zeit. Es fiel mir auch auf, dass es anscheinend zwei Welten gab, die ununterbrochen aufeinander prallten, jene die die Sprechenden gerne so hätten, wie sie sie schilderten oder mitzuteilen versuchten, und jene die faktenmäßig so war wie sie war, obgleich ich die Differenz nur verspürte, noch nicht realisieren konnte. Aber sie machte sich jedenfalls bemerkbar.
Eines änderte sich allerdings sehr rasch. Die Verkehrspolizei. In Graz gab es drei oder vier Einsatzpunkte, wo die Männer mit den weißen Käppchen auf speziell aufgestellten Inseln standen und den Verkehr durch Handzeichen regelten. Anfangs standen sie noch einige Stunden, später verkürzten sich die Intervalle ihres Dienstes. Zu Weihnachten bekamen die Herren jede Menge Geschenke von den Kraftfahrern, etwas später wurde diese Geschenkannahme verboten. Und knapp darauf wurden die Männer sowieso ersetzt. Durch erste, zunächst handgesteuerte Ampelanlagen. Es war auch die Zeit als sich das Verkehrsaufkommen im Bereich der Kreuzung Steyrergasse/Klosterwiesgasse merklich verdichtete. Beinahe monatlich gab es hier einen Unfall. Was natürlich seinen Niederschlag fand in den telefonarischen Aktivitäten meiner Eltern und den Gesprächen im Geschäftslokal. Sich demzufolge auch stark niederschlug in meinen Lausch-Aktivitäten. Hörte ich es krachen, quietschen oder scheppern stürzte ich schon auf meinen Lauschposten. Bei größeren Ereignissen war ich einer der Ersten unter den berühmten Zuschauern, beobachtete Opfer, Rettungsleute und Executive. Ein Unfall von den vielen blieb mir unauslöschlich im Gedächtnis haften. Ein Motorradfahrer krachte “full speed” gegen die Bordwand eines LKW. Diese Verkleidungen bestanden damals aus Holzlatten verbunden durch senkrechte Metall-Stege. Von Motorrad-Schutzbekleidung und Helm war natürlich noch keine Rede. Der Schädel prallte voll auf diese Seitenwand. In all seiner Natürlichkeit, das Opfer selbst war nicht mehr zu erkennen. Gehirn-Austritt, hörte ich es flüstern. Das Geschehen selbst lief für mich in Zeitlupe ab, der gleichzeitige Zusammenprall zweier unterschiedlicher Geschwindigkeiten und Richtungen – immer wieder, bis tief in den erlösenden Schlaf hinein. Obwohl ich den genauen Ablauf ja überhaupt nicht miterlebt hatte.
In den Unmengen an Dialogen und auch Multilogen fiel mir schon auch auf, dass zwei Namen immer wieder fielen, wobei ich zu Beginn glaubte, dass es sich um ein und dieselbe Person zu handeln schien. Waren die Namen doch fremdländisch und klangen wie: “Dschonfostadalläss und Ellendalläss”. John Foster Dulles und Allen Dulles. Ich wusste nicht ob das ein und derselbe war, oder ob das Brüder waren oder Vater und Sohn. Wusste auch nicht, wer oder was sie waren, welche Funktion sie bekleideten. Für mich waren es Namen, ganz einfach nur Namen, Schall und Rauch. Später wurde das anders, als alles rund um mich Gestalt annahm, als Allen Dulles zum Allen W. geworden war. Und als ich schließlich in der Grinzinger Straße in Wien im Büro des Molden-Verlags einem Herrn Kunz gegenüber sass, ehemals Sekretär von Bruno Kreisky, da war das alles überhaupt ganz ganz Anders. Da war ja auch JFK, John Fitzgerald Kennedy, der legendäre Präsident der US-Amerikaner, schon lange lange tot und lebte doch noch. Aber das ist ein Kapitel ganz für sich. Die Grundsteine jedenfalls wurden damals gelegt, ob ich wollte oder nicht, ob meine Eltern wollten oder nicht. Auch späterhin erntete ich nur Schulterzucken oder ein hilfloses “Tja, Schicksal”. Einige wenige, wie Erich F.Mülhofer etwa, schauten mir nur offen in die Augen und waren still. Einige ganz wenige schoben es auf etwas, was wir Menschen nie begreifen werden und das man in fast allen Religionen als “Gott” bezeichnet. Einige nickten und lächelten still.