Die Entdeckung, dass es einen Berg, ein Massiv namens “Hochschwab” gibt, dass es einen “Seebergsattel” und eine Ortschaft mit dem Namen “Seewiesen” gibt, gehörte zu den Erweiterungen meines Horizonts. Dass es Strassen dorthin gibt, wenn auch nicht gerade asphaltierte, sondern einfache Makadam-Strassen, geschottert und irgendwie gekonnt befahrbar. So wie halt während des Kriegs erlernt. Die Ur-Strasse führt heute (2016) noch durch den alten Teil von Seewiesen, am Gasthof Schuster vorbei. Es war ein ganz, ganz kleines Stück von Welt, das ich da kennengelernt hatte. Sehr, sehr staubig – falls der Postbus vorüber fuhr oder hin und wieder ein keuchendes und stöhnendes Automobil oder ein ratterndes Motorrad, steil bergauf, sehr steil. Es war ja der berühmte Seebergsattel. Da standen Kuhlimuhs herum und muhten und glockenbimmden und waren eingekreist von hölzernen Zäunen. Ich kann mich noch an eine Strassen-Serpentine erinnern, wo man die Strasse unbedingt verlassen musste, wollte man auf die sogenannte “Aflenzer Staritzen” kommen, wobei die diversen Bezeichnungen der Gegenden, in der ich mich damals auf Wunsch meiner Eltern herumtreiben musste, schon meinen späteren Werdegang vorwegnahmen. Sie waren nämlich eine Kreuzung aus der lokalen deutschen Mundart und dem Slowenischen (Slawischen). So gesehen war das Alles ein Gewinn. Und ich habe deshalb auch nie ganz verstanden, warum es noch immer Menschen gibt, die stolz darauf sind etwas genommen zu haben, was ihnen gar nicht gehört, weil es sowieso allen gehört. Wem gehört denn was eigentlich?
Wir kamen also von der Staritzen zurück nach Seewiesen und wollten noch schnell etwas essen. Im Gasthof Schuster. Bevor es mit der Post wieder nach Graz ging. Doch daraus wurde nichts. Denn auf Grund des Gefälles der Seeberg-Bundesstraße verunfallte ein Beiwagen-Motorrad in einer der Serpentinen bei der Bergabfahrt. Die Maschine schleuderte über den Schotter, kam von der Fahrbahn ab, überschlug sich. Der Fahrer, seine Frau und das Kind der Beiden waren sofort tot. Anwesende strömten zusammen, bargen die Unfallopfer und bahrten die Toten in der Diele des Gasthofes auf schnell zusammengestellten Tischen auf, deckten sie mit braunem Packpapier ab. Ich kann mich noch an einen Kinderarm erinnern, der offensichtlich zerbrochen von einem der Tische herabhing. Blut tropfte noch entlang eines der Fingerchen, und immer wieder sah ich dieses Bild vor mir, ehrlicher geschrieben: Ich sehe es noch immer. Ich erinnere mich ganz präsent auch an einen SanKW, ein Rettungsauto, über und über geschmückt mit Enzian und Almrausch und Seidelbast und allem was da oben blühte und einen letzten Gruß darbot, trotz aller Naturschutzverbote. Durch das schweigende Spalier der Anwesenden fuhr der Transport dann langsam die steile Strasse hinab in Richtung des Mürztales. Die Größeren hatten tränenfeuchte Augen. Die Frauen sagten noch “Schön hamm Sie’s gmocht!” und meinten damit den Blumenschmuck des SanKW. Der Hunger war weggeblasen, ich brauchte danach nichts mehr, dachte nicht daran, sah nur die Umrisse der abgedeckten Körper und die vielen, vielen Blumen…
Abgesehen von den Grazer Hausbergen, von der Region um Grimming und Bad Mitterndorf, zusätzlich noch die Gegenden um Pack, Hebalm, Zirbitzkogel und Gleinalm, das Erlebnis Zirkus Kludsky bei meinen Großeltern, stellte jenes Gebiet zwischen Präbichl und Seewiesen das wohl wichtigste und interessanteste Teilstück der großen weiten Welt dar, die es zu begreifen und erforschen galt. Dazu gehörte alles, was da leibte und lebte, in unserem Sinne abstarb und neu erschaffen wurde. Die komplette Botanik, die Fauna, die 4 Jahreszeiten, alles was zum Leben und dem Überleben in diesen wirtlichen und unwirtlichen Gegenden nötig war. Wie die Fischer bei Grado in Oberitalien, im westafrikanischen Lac Ahémé oder sonstwo in dieser schönen, weiten Welt warf ich meine Netze aus – auch über das ganze eindrucksvolle Land namens Österreich. Aus Ostarrichi, irgendwo im heutigen Nieder-Österreich, aufgebläht zu einem Beinahe-Weltreich, und wieder in sich zusammengefallen zu einem wunderschönen, heimeligen Kern, inclusive dem viel älteren Carinthia und der Steiermark.
Zum Auswerfen von Netzen bot sich genug Gelegenheit. Aus beruflichen Gründen fuhren meine Eltern immer getrennt auf Urlaub: Einer musste ja das Geschäft hüten, es war ein kleiner “Kolonial”-Warenhandel. Später wurde ein “Lebensmittel”-Handel draus. Jedenfalls bekam ich im Schiestlhaus auf dem Hochschwab mein erstes, mein allererstes “Gams”-Schnitzel vorgesetzt. Bratkartoffel, Grüner Salat und ein “Wiener” bestehend aus echtem und großem Hochschwab-Gams! Nach dem langen Anmarschweg durch Dullwitz und über den Graf-Meran-Steig ein ganz und gar köstliches kulinarisches unvergleichliches Erlebnis!
In Erinnerung bleibt mir auch der Treiber der beiden Mulis zum Schiestlhaus hinauf. Schwerst bepackt mit Ess- und Trinkbarem und vor allem mit dem lebensnotwendigem Wasser – dort oben gibts nämlich keines – zogen sie zu dritt ihre Spur. Die kürzeste und schnellste Spur. Fernab von den Spuren der Bergsteiger und der wenigen Touristen damals. Manchesmal tangierten oder kreuzten sie die üblichen Wege. Dann hörte man sie keuchen oder blasen, oder man hörte ihn schimpfen, sich lauthals vor sich hin ärgern, wenn irgendwas nicht richtig verpackt war und kaputt gegangen war. Der Treiber, an den ich mich erinnere, war in meinem Alter, nur viel, viel stärker. Ob er schreiben konnte, würde ich bezweifeln, beim Lesen habe ich ihn einmal ertappt. Wann hätte er auch zur Schule gekonnt? Getrunken hat er jedenfalls schon, ich habs gesehen. Das war sicher kein Wasser.
Eines schönen Abends war das ganze Schiestlhaus mit allen die das Bergsteigerlager beschlafen wollten, höchst aufgeregt. Forstbeamte oder Aufsichtsjäger hatten nämlich wieder Adler angesiedelt, was natürlich für heiße Diskussionen sorgte. Tatsächlich konnte ich am nächsten Morgen einen dieser Riesenvögel über der Hochschwab-Südwand beobachten. Ihren schweigend stillen Flug, eher ein Gleiten in endlosen Kreisen mit dem Aufwind bergauf, dann ein Gleiten zum Abwind hinüber, dann wieder zurück, ohne ein einziges Mal mit den gigantischen Flügeln zu schlagen, nur zu gleiten, windauf, windab, windauf. Ich wurde und war still. Mit einem Mal wurde mir klar, was Ästethik bedeutet. Dass sie gelebt wird.
Am Hochschwab durfte ich auch erleben, was eine “Stampede” ist. Wir waren gerade in einer kleinen Gruppe von Wanderern mit dem selben Ziel unterwegs, in einem größeren Latschenfeld knapp vor dem Ausgang zur Häuslalm. Als wir ein Geräusch hörten, welches Viele von uns noch nie gehört hatten. Ein Trommeln. Und gleichzeitig verspürten wir ein leichtes Beben des Bodens. Einer von uns stürmte durch die Latschen, irgend wo hinauf um mehr zu sehen. Bald hörten wir ihn rufen. Wir eilten ihm durch die Latschen nach. Und dann konnte auch ich sehen, was ich ein Leben lang nicht mehr sehen durfte. Fünfzig oder achtzig Gemsen, oder mehr. In einer einzigen Schar. In einer einzigen Gruppe. Der Zugang zur Häuslalm war versperrt. Da zog ein Gams nach dem anderen, nebeneinander, dicht an dicht, unentwegt. Ich hielt die Luft an, der Mund blieb offen. Das Beben wurde stärker,das Trommeln lauter. Die Gemsenschar zog über den vor uns liegenden Sattel, von Nord nach Süd, so kam es mir jedenfalls vor. Ununterbrochen. Und dann war der Spuk vorbei. Hinterließ staunende und stille Menschen. Erst langsam kamen wir wieder zu uns. Schüttelten die Köpfe. Ich höre heute noch Sätze auf wienerisch, auf grazerisch, auf steirisch: “Jo, sog amol…”, “Des gibts ned”, “Na, des hob i no net alebt…” Ich sowieso nicht. Einer der Gründe, warum ich so genau hinhörte, was und wie die “anderen” reagierten, ich wusste ja noch nicht, dass es meine erste und einzige alpenländische “Stampede” gewesen war.
Dieses Massiv namens Hochschwab haben wir – mein Vater und ich – in allen möglichen, eindrucksvollen Richtungen überquert. Ziel war immer der “Polster”. Deswegen nämlich, weil auf den Polster ein Sessel-Lift führte, der es möglich machte, sich in aller Ruhe von den Eindrücken und Erlebnissen der letzten Tage zu verabschieden. Auch von den kurzen, aber nicht ungefährlichen Momenten der berüchtigten “Griesmauer”, wo wir tatsächlich einmal vom Steinschlag betroffen wurden. Da war es wieder, das Trommeln, langsamer zwar, pochend und langsamer bebend. Ein Vater, der mir sagte, ich solle mich hinlegen, den Rucksack in den Nacken legen und sonst nichts tun, absolut Nichts tun, nur warten. In der Zwischenzeit schienen die Steinbrocken mit uns zu spielen. Sie kamen von der Griesmauer gesprungen, in langen, hohen Bögen sprangen sie auf uns zu, an uns vorbei. Wenn sie auf den Boden trafen spürte ich das kurze Federn, hörte den kurzen Aufprall immer leiser werdend, abgelöst vom lauteren Aufprall des folgenden Brockens. Das Ganze dauerte ein paar Minuten, dann hörte ich, doch erleichtert, die Stimme meines Vaters, ich solle jetzt aufstehen, meinen Rucksack schultern und weitergehen. Der Steinschlag sei wahrscheinlich von einer Gams ausgelöst worden, kann auch sein, von einem anderen Tierchen, einem Murmel vielleicht. Er tat so als sei nichts geschehen, als sei das die natürlichste Sache der Welt, ein Sonntags-Spaziergang über die Herrengasse in Graz. Und dann schwebten wir auf unseren Sesseln hinab ins Tal, ein letzter Blick noch ganz entspannt auf den Erzberg, dem irdenen Hut der Steiermark. Wie der Adler über die Südwand zog ich auf die Schmalspur-Eisenbahn über den Präbichl zu, die uns – abgesehen vom damals noch kostbaren Eisenerz – an den Resten und Ruinen der alten Hochöfen vorbei nach Leoben brachte und von dort dann weiter nach Hause, nach Graz.