In Memoriam Ernst Grissemann

Ernst bei seinem Besuch am Magdalensberg. Foto: Ingrid Wolf

Jeden Tag wird es etwas mehr wer­den an schrift­li­chen Erin­ne­run­gen und Gedan­ken. Nut­ze­rin­nen und Nut­zer die­ser Sei­ten kön­nen das Ent­ste­hen mitverfolgen.

Ges­tern erst hat er uns hin­ter sich gelas­sen. Ges­tern, am 6. Jän­ner 2023. Ernst hat uns alle ent­las­sen, mehr konn­te er nicht tun für uns Über­le­ben­den. Sei­ne Stimm­per­sön­lich­keit war durch sei­ne Tätig­keit als Sta­ti­on-Voice der drei “neu­en” ursprüng­li­chen Hör­funk­pro­gram­me des ORF – Österreich1, Öster­reich Regio­nal und Öster­reich 3 – prä­gend und jeder­zeit prä­sent. Erst durch ihn wur­de den Ver­ant­wort­li­chen fass­bar, dass Unmiss­ver­ständ­lich­keit nur durch kla­re Aus­spra­che erreicht wer­den kann. Und das wur­de erreicht, sie­he die amt­li­chen gül­ti­gen Wör­ter­bü­cher des deut­schen Sprach­rau­mes der 2.000er-Jahre. Es hat zwar ewig lan­ge gebraucht, aber das war hier­zu­lan­de schon immer so: Die Müh­len des Herrn oder der Her­ren mah­len lang­sam. Es waren ja auch nur männ­li­che Müh­len. Ich kann mich an einen Inter­view­part­ner im Rah­men einer Ö3-Live-Sen­dung erin­nern, der mich im reins­ten sprach­li­chen Lokal­ko­lo­rit pro­vo­zie­ren woll­te und dem ich im sel­ben Lokal­ko­lo­rit ent­geg­nen muss­te, um ihn zu stop­pen und ihm begriff­lich klar zu machen, dass uns die Höre­rin­nen und Hörer in Vor­arl­berg nicht ver­ste­hen könn­ten. Auch jene nicht in Kärn­ten oder in Ober­ös­ter­reich. Es sei denn, man wäre Impe­ria­list und wür­de Natio­nen zwin­gen wol­len die Spra­che des “x‑ten Hiebs” als Amts­spra­che anzu­er­ken­nen. Mög­li­cher­wei­se ist dem Her­ren in der Zwi­schen­zeit klar gewor­den, dass wir mit einer Viel­zahl von Lokal­dia­lek­ten auf­wach­sen und die­se auch spre­chen müss­ten, um uns unmiss­ver­ständ­lich aus­drü­cken zu kön­nen. In die­sem Bereich dürf­te auch das öster­rei­chisch-bay­ri­sche kom­mu­ni­ka­ti­ve Pro­blem lie­gen. Ernst Gris­se­mann hat mit­ge­hol­fen die­ses Pro­blem zu lösen. 

Ernst beherrsch­te die­se Viel­zahl von Lokal­dia­lek­ten. Hin und wie­der rief er uns Mode­ra­to­ren wäh­rend einer Live­sen­dung als Hörer aus Kärn­ten oder Tirol oder sonst woher an, ver­wi­ckel­te uns in ein län­ge­res Tele­fon­ge­spräch wel­ches er zumin­dest so lan­ge führ­te, so lan­ge der von uns zuvor ange­kün­dig­te Musik­ti­tel lief. So hielt er uns davon ab, Noti­zen für die nächs­te Mode­ra­ti­on zu machen. Er zwang uns also tat­säch­lich frei zu mode­rie­ren, ohne Hilfs­mit­tel. Er konn­te dies so per­fekt, dass wir nie wuss­ten ist er’s oder ist er’s nicht! Er führ­te uns also höchst effek­tiv und effi­zi­ent.
Da wir damals alle bis auf einen freie ORF-Mit­ar­bei­ter waren ohne Anspruch auf Sekre­tä­rin­nen, hat­ten wir auch nie­man­den, der die Mode­ra­tio­nen mit­ste­no­gra­fiert und sie dann ins Rei­ne über­setzt hät­te, um sie der Lite­rar Mecha­na zwecks Neben­ein­kom­men weiterzumelden.

Als Ereig­nis waren die­se Vor­fäl­le selbst lus­tig und unter­halt­sam, aber rea­li­ter ging es um Kom­mu­ni­ka­ti­on, um rei­bungs­freie und umiß­ver­ständ­li­che Mit­tei­lun­gen. Es ging – damals schon – um ein “hoch­ge­lau­te­tes Öster­rei­chisch”, Mit­glied der “bai­risch-öster­rei­chi­schen” Sprach­fa­mi­lie. Ernst moti­vier­te mich im Bei­sein eines Mit­ar­bei­ters der Gene­ral­inten­danz, Herrn Arnold Mey­er-Lan­ge, in das Pro­jekt “Aus­bil­dung für ORF-Mit­ar­bei­ter vor Mikro­fon und Kame­ra” ein­zu­stei­gen. Da eine aka­de­mi­sche Aus­bil­dung nach Vor­bild mei­ner ganz per­sön­li­chen Aus­bil­dung an der Gra­zer Uni­ver­si­tät für Musik und dar­stel­len­den Kunst uto­pisch war, begann ich mich inten­siv mit den prak­ti­schen media­len Erfor­der­nis­sen aus­ein­an­der­zu­set­zen. Nach kur­zer Zeit hat­te ich her­aus­sen, wor­an es beim ORF gele­gen war. Ich ent­wi­ckel­te ein Sys­tem von Ein­zel- und Grup­pen-Coa­ching. Inte­griert war auch ein spe­zi­el­les Trai­ning von soge­nann­ten Geläu­fig­keits­übun­gen.

Damals – in den letz­ten Jah­ren des 20ten Jahr­hun­derts – gab es noch spe­zi­el­le Nach­rich­ten­spre­cher. Das waren die “Ober­leh­rer” der Nati­on und des ORF. Beson­ders berüch­tigt bei den Nach­rich­ten-Redak­teu­ren war damals ein Kol­le­ge namens Peter Fich­na. Wäh­rend des Ver­le­sens der neu­es­ten welt­po­li­ti­schen Ereig­nis­se kor­ri­gier­te er – für alle Zuhö­rer ein­deu­tig ver­nehm­bar – auf den Vor­le­se­un­ter­la­gen gram­ma­ti­ka­li­sche Feh­ler “laut­hals” an. Wie in der Schu­le wäh­rend des Unter­richts. Jede Stun­de fand also der Kampf Gram­ma­tik gegen All­tags­ge­brauch der Spra­che statt, in aller Öffent­lich­keit. Ich fand ein sol­ches Ver­hal­ten schon etwas prä­po­tent und um in der Pra­xis zu zei­gen, dass es auch anders geht, habe ich mich bereit erklärt eini­ge Nacht­diens­te zu absol­vie­ren in denen ich unbe­dingt nöti­ge Kor­rek­tu­ren ein­fach wäh­rend des Spre­chens der Nach­rich­ten von Zuhö­ren­den unbe­merkt in das Spre­chen ein­flies­sen ließ. Es war die Zeit der Aus­ein­an­der­set­zung zwi­schen Sprech­spra­che und Schrift­spra­che. Die­ser Kampf hat sich im Jah­re 2024 auf die Print­me­di­en mit ihren Online-Pod­casts aus­ge­wei­tet. Sinn­los. Denn AI/KI wird Medi­en­mit­ar­bei­tern die­se Bür­de sowie­so bald abneh­men. AI gestütz­te Radio­pro­gram­me machen ihre Sache eh schon ganz vor­züg­lich. Aus­ser­dem wird das hoch­ge­lau­te­te Bai­risch-Öster­rei­chisch von den Schü­le­rin­nen und Schü­lern von Eisen­stadt über Graz und Kla­gen­furt und Inns­bruck bis Bre­genz und Salz­burg und Linz bis in die Mega­ci­ty Wien gespro­chen. Eine Gene­ra­ti­on noch und das Pro­blem hat sich erle­digt. Das gilt auch für das poli­tisch hoch­ge­spiel­te Gen­dern. Die deut­sche Spra­che hat genü­gend Mög­lich­kei­ten sich geschlech­ter­ge­recht aus­zu­drü­cken. Aus­ser­dem hat die Mensch­heit die Zeit des Blei­sat­zes über­wun­den und es geht ja nicht mehr um das öko­no­mi­sche Pro­blem der ein­zel­nen Zei­chen. Wir haben gegen­wär­tig Platz jede Men­ge um den Mög­lich­kei­ten unse­rer Vater- und Mut­ter­spra­che Raum zu geben.