Die Messen

Ein rie­si­ger kir­chen­ähn­li­cher Holz­bau. Ein rie­si­ger Saal mit vie­len, vie­len Leu­ten. Ein Duft von Bier, viel, viel Bier. Und Hüh­nern, geba­cken und gebra­ten. Viel, viel Musik, umta­ta und tätä­ri­dää. Eine gro­ße Kapel­le mit vie­len, vie­len Instru­men­ten, Trom­pe­ten, gro­ßen Trom­meln, einer der mit sei­nen Hän­den her­um­fuch­telt, im Rhyth­mus, offen­bar bedeu­tet sei­ne Fucht­le­rei etwas. Etwas ganz Beson­de­res. Gesprächs­fet­zen, Geläch­ter, Volks­mu­si­ka­li­sches, Yugo­sla­wi­sches, Ori­gi­nal-Slo­we­ni­sches, war ja noch Tito-Zeit­li­ches. Mög­li­cher­wei­se Slav­ko Avse­nik. Dann macht der Fucht­ler mit Gewalt eine Pau­se. Es wur­de still und immer stil­ler. Der Fucht­ler war der Diri­gent. Er kam auf mich zu, sag­te irgend­was. Ich schau­te zu mei­nem Vater. Mein Vater nick­te mir zu. Ich gab dem Diri­gen­ten mei­ne Hand, folg­te ihm. Klet­ter­te hin­ter ihm her, aufs Podest. Hol­te tief Luft, hob mei­ne bei­den Hän­de, mach­te das, was ich an unse­rem Tisch bei der Musik in die­sem Holz-Rie­sen­bau immer gemacht habe. Ich diri­gier­te. Mach­te das, was jeder Diri­gent mach­te, denn schließ­lich waren sie ja – unbe­wusst – mei­ne Vor-Bil­der. Und die Kapel­le spiel­te. Sie spiel­te Musik, blies und trom­mel­te und geig­te und zither­te und flö­te­te und zym­bel­te und jubi­lier­te. Ich stand da und begriff dass die Musik von mir aus­ging, ich voll davon war und die Töne und die kom­plet­te Musik aus­leb­te und Teil die­ser Musik war. Der Diri­gent stand neben mir und schau­te zu den vie­len Leu­ten im Raum, die da tran­ken und aßen und tran­ken. Dann gab es tosen­den Applaus. Auch von den vie­len Leu­ten mit den Instru­men­ten. Offen­sicht­lich galt das mir. Der Diri­gent nahm mich bei der Hand, sag­te irgend­was in ein Ding hin­ein und wur­de dabei ganz laut und dann war ich wie­der bei mei­nem Vater und sehn­te mich nach einem der köst­li­chen beleg­ten Bröt­chen des Mol­ke­rei­ver­ban­des gleich neben­an. Das geschah im Lau­fe nur eines der vie­len, vie­len Besu­che der Gra­zer Mes­se, kon­kret der Früh­jahrs­mes­se. Es war außer­dem ein Muss-Event in die­sen Jahren.

Grazer Frühjahrsmesse 1950-52
Mit Eltern Gabrie­le (geb. Weis­sen­stei­ner) und Alo­is auf der Gra­zer Früh­jahrs­mes­se 1950 (?). Das war vor allem wegen der spe­zi­el­len Käse­bröt­chen des Gra­zer Milch­ho­fes ein Ereig­nis. Rechts Schwes­ter Sonn­hil­de mit son­ni­gem Blick.

Es war eine Burg für mich. Eine Burg aus Holz in der geges­sen und getrun­ken und Musik kon­su­miert wur­de, solan­ge bis alles was mit die­ser Burg in Ver­bin­dung gebracht wur­de in Schall und Rauch auf­ging, vor allem in Feu­er. Dann war Schluss mit der stim­mungs­vol­len Völ­le­rei. Dann wur­de eine moder­ne “Lebens­mit­tel­hal­le” errich­tet im typi­schen 50er-Jah­re-Stil, in der Mei­nung es sei min­des­tens eben­so stim­mungs­voll. Das ein­zi­ge, was die­se Hal­le brach­te waren kurz­fris­ti­ge Arbeits­plät­ze, För­de­run­gen und natür­lich auch Ent­schä­di­gun­gen sei­tens der Ver­si­che­rung. Auf dem Foto rechts – dem Ein­zi­gen das aus die­ser Zeit stammt – ist im Hin­ter­grund noch der alte Ein­gang von der Klos­ter­wies­gas­se zu sehen. Auf­ge­nom­men hat es einer der beruf­li­chen “Mes­se-Foto-Gra­fen”. Von denen konn­te man sich als Besu­cher ablich­ten las­sen, natür­lich gegen einen “Obo­lus”. Wenig spä­ter ent­stand an Stel­le die­ses Mes­se-Zugangs der berühm­te Para­bel­bo­gen des Ein­gangs zum Ver­gnü­gungs­park und Zir­kus-Gelän­de des Are­als. Damals hat­te man ja kei­ne Ahnung davon, dass künf­tig Astro­nau­ten in ähn­li­chen Para­bel­bö­gen trai­nie­ren wer­den. Da wur­de geges­sen und getrun­ken – in der Lebens­mit­tel­hal­le, bis spät in die Nacht hin­ein wur­de im angren­zen­den Ver­gnü­gungs­park sich ver­gnügt, Geis­ter­bahn gefah­ren, mit Luft­druck-Geweh­ren geschos­sen, an Geld-Auto­ma­ten mit Geld gespielt, Auto­drom gefah­ren, Feu­er­wer­ke abge­feu­ert. Solan­ge das Gelän­de zwi­schen Mes­se und der Stey­rer­gas­se nicht ver­baut war, groß­ar­tig zu sehen von unse­ren Schlaf­zim­mer- und Küchen­fens­tern aus. Gab es kei­ne Mes­se, war dies der Spiel­platz für die Zir­kus­se mit ihren berühm­ten Namen, den Zir­kus “Wil­liams” aus den Ver­ei­nig­ten Staa­ten mit allem Drum und Dran, sogar mit Was­ser-Bal­lett, dem Zir­kus Reber­nigg, Knie, Kro­ne, Alt­hoff, Busch, Hagen­beck, usw. Bei den meis­ten hat­te ich mich als Hilfs­kraft ver­dingt und dabei Gra­tis-Zugang zu allen Artis­ten und Künst­lern und Clowns und Dres­seu­ren und natür­lich den meis­ten Tie­ren. Ich kann mich noch an zwei sehr ein­drucks­vol­le Brüs­te erin­nern, die jedes­mal, wenn man sie berühr­te auf­leuch­te­ten. Mei­ne Auf­ga­be war es auch die zuge­hö­ri­ge Sta­tu­et­te auf Hoch­glanz zu polieren…
Gleich­zei­tig trat auch mein Vater in Geschäfts­be­zie­hun­gen zu den Zir­kus­sen: Wir hat­ten ja Heu jede Men­ge – in St. Peter, in unse­rem Obst- und Gemü­se­gar­ten dort und in Stif­ting, bei mei­nen Groß-Eltern. Und das Nah­rungs- und Streu­mit­tel “Heu” benö­tig­ten die armen Tie­re in ihren Gefäng­nis­sen drin­gendst. Wir gehör­ten sozu­sa­gen zu den pri­vi­le­gier­ten Gra­zern. Ich ver­ließ die Stey­rer­gas­se 69 ging die kur­ze Stre­cke bis zum Mes­se-Para­bel-Bogen am Ende der Klos­ter­wies­gas­se, sag­te dort einem “Wach­ter”, einem Mit­ar­bei­ter der Secu­ri­ty-Fir­ma, wer ich war und schon war ich in einer ganz, ganz ande­ren Welt, einer Welt der schwe­re Vor­schlag­häm­mer schwin­gen­den Ath­le­ten, die gigan­ti­sche Zel­te auf­bau­ten, einer Welt der Arbeits- und Mane­gen-Ele­fan­ten, die jede Men­ge Mas­ten schlepp­ten und auf­rich­te­ten, einer Welt der Schwerst-Arbei­ter. Denn die­ser Teil der glän­zen­den nach­mit­täg­li­chen und abend­li­chen Show fand ja nur Vor­mit­tags statt, unter Aus­schluss der Öffent­lich­keit. Mit Aus­nah­me der Arbeit von Beleuch­tern, deren Show-Anteil unter Koh­le­stif­ten, ech­ten Flam­men­bö­gen und vor­ge­schal­te­ten bun­ten Fil­ter­schei­ben statt­fand. Beglei­tet von orches­tra­len Klän­gen, die mich kei­nes­falls moti­vier­ten zu diri­gie­ren. Hin und wie­der gab es da ein kur­zes Knal­len und unter­drück­tes fremd­län­di­sches Flu­chen zu hören. Alles das war Grund genug für mich, alles zu tun, um die­se Pri­vi­le­gi­en zu genie­ßen, um die­ses Wis­sen anzu­zap­fen, um Din­ge zu erfah­ren, die man mir andern­orts nie gesagt hät­te. So habe ich sie groß­teils selbst gese­hen und gehört und so man­ches selbst erfah­ren. Durf­te auf­neh­men und ver­ar­bei­ten, was es für den Ein­zel­nen bedeu­te­te eine Leis­tung für das Unter­neh­men “Zir­kus” abzu­lie­fern. Und dafür auch einen Gegen­wert zu bezie­hen. Einen Gegen­wert, der in Essen und Trin­ken bestand und in einer Art Taschen­geld. Das unter­lag irgend­wie dem Namen, den man irgend­wo hat­te, sich irgend­wo erwor­ben hat­te, im Gefäng­nis, bei sons­ti­gen Arbeits­ko­lon­nen oder im Bereich des Show-Busi­ness. Irgend­wie hat­te das mit Luft zu tun, das fühl­te ich. Ich habe sie wirk­lich genos­sen, die­se mei­ne Aktionen.
Die Gra­zer Mes­sen waren es, die mir bei­gebracht hat­ten was “Glo­cken­gie­ße­rei” bedeu­te­te, was das über­haupt ist und wie eine Glo­cke ent­steht, wie meh­re­re Glo­cken zu einem ein­zi­gen gro­ßen und gan­zen Klang-Kör­per erschal­len. Da stan­den und hin­gen sie mit ihren Klöp­peln und Läut­wer­ken  und mach­ten auch öffent­li­che Stim­mung für die “Pum­me­rin” , die größ­te Glo­cke Öster­reichs, die wie­der erschal­len soll­te, ihren Klang über Wien hin­weg, über ganz Öster­reich sen­den soll­te, um an Frie­den und Aus­ge­gli­chen­heit zu erinnern.
An Frie­den und Aus­ge­gli­chen­heit soll­te auch die Prä­sen­ta­ti­on des wehr­haf­ten Teils die­ses Staa­tes Öster­reich erin­nern. Die Gra­zer Mes­se und das dama­li­ge Mili­tär­kom­man­do für die Stei­er­mark sand­te die Ein­hei­ten des Flie­ger­horsts Graz-Tha­ler­hof des öster­rei­chi­schen Bun­des­hee­res aus, um die Öffent­lich­keit über sei­ne Leis­tungs­fä­hig­keit zu infor­mie­ren. Da wur­de bei­spiels­wei­se der Funk­sprech­ver­kehr zwi­schen den flie­gen­den Maschi­nen und dem Tha­ler­hof über­tra­gen, ein paar Sekun­den spä­ter flo­gen die Maschi­nen dann über die Köp­fe der Mes­se­be­su­cher hin­weg. Starr vor Stau­nen, mit offe­nem Mund, still und stumm, hin und weg, stand die Men­ge da und ließ sich beein­dru­cken. Par­al­lel dazu übte eine Flak-Ein­heit ihre Ein­satz­be­reit­schaft. Die Radar­an­ten­nen und Flak-Geschüt­ze wir­bel­ten hin und her, such­ten die anflie­gen­den Objek­te, erfass­ten sie, mar­kier­ten die Schüs­se. Ja, es war eine Tat­sa­che: Wir hat­ten wie­der eine schlag­kräf­ti­ge Luft­waf­fe In Öster­reich. Richard, der Bru­der von Jür­gen, einem gleich­alt­ri­gen Jugend­freund, lern­te damals das “da drü­ber­flie­gen”. Bis zu sei­nem Absturz über der Kor­al­pe. Ja, wir waren wehr­haft! Zumin­dest außenpolitisch.
Wie wehr­haft wir Öster­rei­cher waren, zeig­te sich 1956. Da wur­de die Gra­zer Indus­trie­hal­le, Teil der Gra­zer Mes­se, ein­fach zum Flücht­lings­la­ger umfunk­tio­niert. Sonst wur­de die­se Hal­le ja eher zu beson­de­ren  auch fest­li­chen Anläs­sen her­an­ge­zo­gen, wie etwa dem Gast­spiel von Lio­nel Hamp­ton. Aller­dings sorg­te die­ses Gast­spiel für Poli­zei-Ein­satz, zer­trüm­mer­te Bestuh­lung und ver­ständ­nis­lo­sem Kopf­schüt­teln bei den meis­ten Gra­ze­rin­nen und Gra­zern. Und es sorg­te für Dis­kus­sio­nen über Wert und Unwert der begin­nen­den “Ame­ri­ka­ni­sie­rung” unse­rer Stadt, des gan­zen Landes.
Was es bedeu­te­te Flücht­ling zu sein, erfuhr ich wäh­rend mei­ner vier­ma­li­gen Besu­che in der Indus­trie­hal­le, als ich half, gebrauch­te Beklei­dung abzu­lie­fern. Mei­ne Augen blie­ben bei jenen Ungarn hän­gen, die offen­sicht­lich nichts mehr hat­ten, als das, was sie an ihrem Leib her­um- und umher­tru­gen. Ihre Augen aller­dings teil­ten mir etwas ganz ande­res mit. Dank­bar­keit. Dank­bar­keit dafür, dass sie über­le­ben durf­ten, dass es wei­ter­ge­hen durf­te. Es waren, trotz aller nega­ti­ven Erleb­nis­se wäh­rend der Flucht, wache und leben­di­ge Augen ohne die Spu­ren von Trau­rig­keit, Depres­si­on oder Hoffnungslosigkeit.

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