Vögel im Küchenfenster

Sie waren Wun­der­din­ger, unse­re Fens­ter. Im Win­ter waren sie schwe­re Kas­ten­fens­ter mit aus­stell­ba­ren äuße­ren Fens­ter­flü­geln und einem Fens­ter­pols­ter zwi­schen dem inne­ren und dem äuße­ren Fens­ter-Teil. Da waren die Umrah­mun­gen der Fens­ter braun. Was bei den im Ver­hält­nis schnee­rei­chen Win­ter­mo­na­ten die­ser Jah­re inter­es­san­te Kon­tras­te bot. Im Früh­jahr wur­de der äuße­re Teil gegen grü­ne Holz­bal­ken aus­ge­tauscht. Die­se Bal­ken bestan­den aus zwei Tei­len und waren ver­rie­gel­bar. Jeder Teil war getrennt aus­stell- und zusätz­lich ver­dun­kel­bar. Beson­ders an hei­ßen Som­mer­ta­gen ein wah­rer Segen! Da stan­den die inne­ren Fens­ter­flü­gel weit offen, die äuße­ren Bal­ken waren ver­rie­gelt, aber aus­ge­stellt und zusätz­lich ver­dun­kelt. In den Zim­mern ergab das eine köst­li­che, erfri­schen­de Küh­le, auch in der Nacht.
Vor dem Fens­ter zur Küche befand sich eine Tro­cken­vor­rich­tung für Wäsche, bestehend aus einer Holz­kon­struk­ti­on mit glei­ten­den Metall­rin­gen, wel­che mit Wäsche­lei­nen ver­bun­den waren. Im Win­ter lag da ein dickes Brett dar­über. Auf die­ses Brett wur­de für die kal­te Jah­res­zeit ein dickes Fut­ter­häus­chen für unse­re Vögel­chen gesetzt, gebas­telt von mei­nem Vater. Wet­ter­sei­tig war das Fut­ter beson­ders geschützt. Das war ja auch die Zeit, in der unser Küchen-Fens­ter beson­ders gefragt war. Da kamen Vögel aus den umlie­gen­den Ber­gen, um sich mit Nah­rung zu ver­sor­gen. Beson­ders in stren­gen Win­tern. Kreuz­schnä­bel und Berg­fin­ken und Kern­bei­ßer. Manch­mal eil­te mei­ne Mut­ter zum Tele­fon, rief irgend­je­man­den von der Uni­ver­si­tät an, beschrieb den betref­fen­den Vogel ganz genau und ließ sich über sei­ne Eigen­schaf­ten bera­ten. Die Leu­te am ande­ren Ende des Tele­fons schie­nen immer ganz froh zu sein über das tele­fo­ni­sche Feed­Back. Es war ja auch noch sehr, sehr sel­ten damals. Auf die­se Art wuss­ten wir natür­lich immer, wo der Win­ter ganz beson­ders hart zuge­schla­gen hat­te, zumin­dest für die Vogel­welt.
Damals, als ich noch ganz klein war und einen Ses­sel benö­tig­te, um zu unse­ren Vögel­chen zu kom­men, fiel mir auch der Unter­schied auf, zwi­schen den Stadt­be­woh­nern und uns. Wobei ich gar nicht wuss­te, zu wem unse­re Fami­lie eigent­lich zu zäh­len war. Per­sön­lich trieb ich mich genau­so gern in der Stadt her­um, wie auf dem Land. Ich hat­te dies­be­züg­lich kei­ner­lei Prä­fe­ren­zen. Mir fiel nur auf, dass Stadt­be­woh­ner unter “Vögel” nur “Spat­zen” ver­stan­den, abge­se­hen davon, dass auch die­se in zwei Fami­li­en zu tren­nen waren, was wir als Kin­der zwi­schen den Wel­ten natür­lich wuss­ten. Ich wuchs mit Baby-Buch­fin­ken auf, mit Kohl­mei­sen- und Blau­mei­sen-Küken, sel­te­ner mit Schwanz­mei­sen. Ich konn­te Buch­fin­ken und ihre Babies benen­nen, Grün­fin­ken, Gim­pel und Stieg­lit­ze und Zei­si­ge und wun­der­te mich über jene, die da kei­ne Unter­schie­de mach­ten, für wel­che Vögel ein­fach Vögel waren. Für mich war es immer ein Erleb­nis, wenn Vogel-Papa oder ‑Mama mit auf­for­dern­dem “Pink! Pink!” im Fal­le der Buch­fin­ken ihre Küken an das Küchen­fens­ter brach­ten und mir kon­trol­lie­rend zusa­hen, wie ich sie mit Nüss­lein oder Pigno­li oder Son­nen­blu­men-Ker­nen füt­ter­te. Und sie fra­ßen mir tat­säch­lich aus der Hand – so ging das vie­le, vie­le Jah­re lang. Ich erlern­te sogar ihre Signa­le und erfreu­te mich an ihrer Neu­gier irgend­wo anders. Zum Bei­spiel in der Gegend des Gra­den­bach­falls bei Wei­ßen­bach bei Haus im Enns­tal. Ver­ste­hen gelernt habe ich sie am Küchen­fens­ter in der Stey­rer­gas­se in Graz.
Wir hat­ten dort am Fens­ter­brett eine der bekann­ten, run­den “Eckerl”-Käseschachteln ange­bracht, ganz ein­fach mit einer Reiss­zwe­cke ans Holz gehef­tet. Das war dann ihre Früh­jahr-Som­mer-Herbst-Fut­ter­sta­ti­on. Und wenn das Wet­ter güns­tig war und mich die zar­ten Lebe­we­sen gera­de such­ten, kamen sie auch bis an den Essen­stel­ler-Rand am Ess­tisch im hin­ters­ten Teil der Küche, “stie­bitz­ten” schnell was sie woll­ten und flat­ter­ten wie­der zum Fens­ter hin­aus. Drau­ßen war­te­ten ja die Zwetsch­gen-Bäu­me. Mei­sen waren ganz beson­ders frech, Fin­ken waren da schon höher kon­di­tio­niert und lie­ßen sich zum Inha­lie­ren des “Stie­bitz­ten” am Fens­ter­brett nie­der. Kar­tof­fel­pür­ree etwa hat­ten sie beson­ders ger­ne. Oder ein Brö­sel­chen vom Leber­knö­del. Über­haupt muss­te ich fest­stel­len, dass unse­re Vögel bren­nend dar­an inter­es­siert waren, was wir da aßen und wovon wir eigent­lich leb­ten. Viel­leicht woll­ten sie nur kos­ten um zu wis­sen?
Als klei­ner Bub hab ich es ein­fach hin­ge­nom­men: Die Vögel­chen und ich, wir kann­ten ein­an­der, waren per­sön­lich bekannt. Die Rei­hen­fol­ge der Wer­tig­keit war ja auch ein­deu­tig: Ich war am belieb­tes­ten, dann kam mei­ne Mut­ter, dann lan­ge nie­mand, dann kam erst mein Vater. Das war kein Traum, kei­ne Ein­bil­dung. Das war so. Als klei­ner Bub durf­te man Mei­nun­gen, wel­che nicht ganz kom­pa­ti­bel waren mit der Erwach­se­nen-Welt, ganz laut äußern. Man ern­te­te höchs­tens Geläch­ter oder viel­leicht auch ein “jojo, wias­tes scho no lea­nan” (Jaja, wirst es schon noch ler­nen). Das war’s. Dass natür­lich viel viel mehr dahin­ter­steckt, stellt sich erst jetzt her­aus. Jetzt erst haben wir Men­schen durch die digi­ta­le Ent­wick­lung die tech­no­lo­gi­sche Mög­lich­keit zur prä­zi­sen Beob­ach­tung und Fest­stel­lung, was da rund um uns her­um und in uns vor sich geht, oder zu begrei­fen, was wir bis­her teil­wei­se unter dem Begriff Evo­lu­ti­on ver­stan­den haben. Sie schrei­tet unbe­irrt fort, die Evo­lu­ti­on. Unbe­ein­flusst von jenen, die ihr unter­lie­gen. Abge­se­hen von ein paar krank­haf­ten Indi­vi­du­en, die natür­lich Opfer kos­ten. Und syn­chro­ni­siert mit dem Gesche­hen irgend­wo da drau­ßen. Wir kön­nen heut­zu­ta­ge in vie­len Fäl­len sogar die Evo­lu­ti­on der Ver­gan­gen­heit nach­voll­zie­hen.
Ich füt­ter­te und schau­te den Vögeln zu und füt­ter­te und mei­ne Gedan­ken schweif­ten ein­mal zu den Ess­ge­wohn­hei­ten, dann zu den Rufen und Gesän­gen und von da wie­der wei­ter zu ihrem Lebens­ele­ment und ihrer Mobi­li­tät – mei­ne Eltern lie­ßen mich gewähren.

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