Vier Löcher im Himmel des Turmes. Da hingen einmal vier Seile herab. Zugseile. An denen hingen vier Jugendliche. Manches Mal auch mehr. Immer sonntags. Es war ja auch ein Mordsspass. Das Läuten der Glocken hoch über uns. Wenn jemand an einem der Seile zog, konnte er sicher sein, gehört zu werden. In der ganzen Gegend. Möglicherweise sogar am Grimming! Ich ziehe an einem Seil und der Ton, den ich damit von der entspechenden Glocke loslöse wird rundumher gehört. Die Glocke und ich teilen uns mit, einer Vielzahl von mehr oder minder freiwilligen Hörern. Das kann etwas Panisches sein oder etwas Beruhigendes. Oder etwas ganz Kataströphliches, wenn alle vier Zugseile betätigt werden. Wenn alle Vier ihre Stimme erschallen lassen. Wenn alle Vier sich lauthals äußern, ihre volle Resonanz tönen lassen.
Den “Glöckner von Notre Dame” hab ich damals schon gekannt, aber was das heißt, Glöckner zu sein, was das bedeutet, das wusste ich bei weitem nicht. Ich wurde damals sozusagen “eingeweiht” in die Geheimnisse der elitären Gruppe der Mitterndorfer Glockenbuben. Ich durfte in die Glockenstube, ich durfte in das Herz der Kirche. In das Innerste jeglicher Liturgie. Ich durfte hin und wieder sogar das dünnste und leichteste der Zugseile ziehen. Und schaute dabei voller Bewunderung den größeren und älteren zu, beobachtete sie ganz genau, wie sie mit dem Glockengetöne spielten, wie sie mittels Seil die metallischen Einrichtungen hoch im Turm instrumentalisierten, zum Tönen und Klingen und Vibrieren brachten. An ganz bestimmten Punkten des Handlungsablaufes da drinnen im Kirchenschiff. Es saßen ja alle im selben Boot. Und sie alle hörten die Meinung und Überzeugung des Einen, der da von der Kanzel zu ihnen hinab sprach. Nicht nur jeden Sonntag. Unterstrichen wurde Er nur sonntags von den Glockenbuben.
Da liefen sie senkrecht nach oben. Die Wände hinauf und hinunter, manchesmal auch horizontal, hingen sich zu zweit oder zu dritt am größten und dicksten Zugseil mit dem größten und dicksten Abschlußknoten am Seilende.
Sie waren scheinbar schwerelos, schienen durch die Stube zu schweben, getrieben von der Energie der Glocken, die ihre Kraft wiederum in Abhängigkeit von der jeweiligen Glockengröße in bestimmten Rythmen von den Buben bekamen.
Nie war da einmal Läuten zu viel. Es wurde immer genauso viel geläutet, wie man auch läuten sollte. Anscheinend gab es genaue Regeln diesbezüglich. Um das Läuten zu stoppen hingen sich mehrere Buben in das Führungsseil, wenn das einer allein nicht schaffen sollte oder wenn damit zu rechnen war, dass er das nicht schaffen konnte. Damals war nichts in der Glockenstube bis auf die an ihrem Ende jeweils verknoteten Führungsseile der Glocken zu sehen. Alles andere hätte nur das Handwerk der Glockenbuben gestört. Sie wussten genau wann was und wie zu tun war. Ich bewunderte nur so nebenbei, ich wollte dieses Wissen auch und ich wusste sehr bald. Ich ließ mir die ganze lange Geschichte des Glockenläutens erzählen und erklären. Das automatische elektrische und gar elektronische Läuten war damals noch weit weg, sogar sehr weit weg. Obwohl das Gedränge und das Sich-Scharen um Kirchen schon längst der Mobilität gewichen war.