Da meine Eltern zu jenen gehörten, welche die Bevölkerung in der Nachkriegszeit mit Milch versorgen mussten und demzufolge auch mich, war ich natürlich von der Verteilung über das Schulmilch-Netz ausgeschlossen. An alle anderen Schulkollegen wurde dieses Lebensmittel im Kellergeschoss unserer Volksschule ausgegeben. Man konnte es schon aus der Weite riechen, vor allem in der wärmeren Jahreszeit, wenn die schmalen Keller-Fenster weit offen standen. Mit einer handverlesenen Gruppe an Mitschülern hatten wir in der sogenannten “Milchpause” nichts anderes zu tun als uns zu unterhalten. Was uns anscheinend schwerfiel. Denn es roch tatsächlich sehr streng im Keller und natürlich auch auf unseren Gängen. Obwohl es ein kostbares Gut war, hatte hin und wieder doch irgendeiner meiner Kollegen das Pech, gestoßen zu werden und dabei Milch zu verschütten. Auf unseren steinigen Böden und noch dazu auf unseren, mit Stauböl getränkten Klassenzimmer-Holz-Böden roch das phänomenal! Über verschüttete Milch ließ und lässt es sich in diesem Fall treffend philosophieren, noch dazu handelte es sich um ein Schulgebäude. Den Geruch alleine kannte ich ja. Schulmilch, das bedeutete viel Arbeit für unseren Schulwart und seine Gattin. Nur bei uns zu Hause, im Geschäftslokal, wurde das immer sofort, auf der Stelle gesäubert. Jede Woche wurden wir, das heißt, meine Eltern, kontrolliert, sehr streng kontrolliert. Von irgendeiner Behörde, angeblich nannte man sie “Lebensmitteluntersuchungsanstalt”. Da kamen dann gleich zwei Männer mit einer Art Taschenlabor, pinselten und strichen an der Milchausgabestelle umher, nickten zufrieden und gingen wieder ohne viel zu sagen. Es gab einen guten Grund für die strengen Kontrollen. Die Ausgabestellen waren potentielle Krankheitsquellen!
Die Milch und Milchprodukte wurden des nächtens vom Milchhof Graz angeliefert. Da kamen die Milch-LKW, eingerichtet nach empirischen Erfordernissen. Die begleitenden Männer hatten Schlüssel zu den Rollbalken unseres Geschäftslokals. Die riesigen leeren Kannen und sonstigen Gebinde tauschten sie gegen gefüllte, kassierten, gaben das Wechselgeld in eine Schachtel und hinterlegten diese ganz oben auf der aktuellen Lieferung. Dann sperrten sie die Rollbalken und wir hatten wieder die frischeste Milch aus der Grazer Umgebung. Die Milchmänner hatten damals einen ganz eigenartigen Ruf. Sie waren zwar nicht hoch angesehen, aber sie waren doch so etwas wie Fast-Heilige. Sie schleppten jede Menge Bargeld mit sich herum, von Kaufmannsladen zu Kaufmannsladen, wickelten Geschäfte ab und erledigten die Lieferungen. Noch dazu im Verlauf der frühen Morgenstunden, als noch alle schliefen, kein Auto fuhr, auch kein Fahrrad. Jeder Mitmensch, der zu dieser Zeit unterwegs war, akzeptierte sie und half ihnen, wenn es nötig war. Nie hörte ich, dass irgendetwas Negatives passiert sei, im Gegenteil. Einige Zeit später, so um sechs Uhr herum, tauchten die ersten Zeitungsausträgerinnen auf. Aber da waren Milch und Milchprodukte längst an der richtigen Stelle, waren die riesigen Milchkannen schon in die großen Behälter umgefüllt, kamen die ersten Hausfrauen mit ihren Kännchen, um ihren Kindern den Frühstückskakao mit frischer Grazer Milch zuzubereiten. Ich bildete dabei die Ausnahme. Ich machte ihn selber! Drei Löffelchen Zucker, zwei Löffel Kakao, frische Milch aufkochen, drüberschütten, kräftig umrühren, bischen auskühlen lassen, hinüber ins Geschäft laufen, zwei backfrische Kipferl holen, Radio anschalten, hinsetzen und in aller Ruhe mampfen, mhm, köstlich, so nebenbei Umtata hören und was es Neues gab, der Schultag konnte beginnen! Hätte ich damals gewusst, dass ich mein Studium an der Akademie zum großen Teil mit der Milch-Aufbereitung finanzieren würde, wäre meine Selbst-Achtung natürlich gleich um einen ganzen Schloßberg gestiegen! Hätte ich zusätzlich davon Kenntnis gehabt, dass ich selber jene Stimme werden sollte welche der Bevölkerung die Neuigkeiten auftischte, der Schloßberg hätte bis zum Mond gereicht!
Meine Volksschule war nach einem gewissen Christoph Martin Wieland benannt. Diese Schule befand und befindet sich in der Wielandgasse in Graz. Dass zusätzlich eine Gasse nach ihm benannt worden war, deutete schon darauf hin, dass der Mann eine Berühmtheit gewesen war. Er hatte sehr viel mit dem Aufbau des Bildungsbürgertums zu tun. Ich kann mich an nichts erinnern, was auch nur irgendwie belastend an meiner Volksschulzeit gewesen wäre. Bis auf die regelmäßigen Zahnarztbesuche, wo man uns arme Versuchskaninchen mit Lachgas behandelt hatte. Die Lehrerin war, wie damals üblich, auf einem Podest positioniert. Über unseren Köpfen. Zu zweit saßen wir in einer Bank, die leicht abgeschrägte Tischplatte konnte jeder von uns hochklappen und seine Hefte, Lehrbücher und die Schultasche verstauen. Im oberen Teil des Tisches waren Löcher für die dicken, schweren, gläsernen Tintenfässer eingelassen. Der Boden des Klassenraums war, wie es damals ebenfalls üblich war, immer stauböl-gepflegt. Was – sobald es noch frisch war, das Öl – ganz gut gerochen hat. Im Laufe der Zeit, vermischt mit den vielen, vielen Abfällen und Papierchen und Obstresten und Milchtröpfelchen und sonstigem Unbenennbaren, immer weniger, bis hin zum Naserümpfen. “Meine” Volksschule war es deswegen, weil es jene Einrichtung war, wo ich das erste Mal konkret den Zugang zur damals herrschenden Gesellschaft lernte und bekam. Jeder Wochentag war ein Schritt hinein. Manchesmal ein kleiner Schritt, dann wieder ein richtiger Sprung nach vorne. Die größten Sprünge fanden an den Wochenenden statt. Da vereinten sich die kleinen Schrittchen aus der Wielandschule mit der Entdeckung der Welt rund um mich herum, um Graz, und um die Steiermark. Es war wunderbar, die Enthüllung der Vielfalt, die nicht enden wollte, das Ausfindigmachen der Möglichkeiten, die niemals in Unmöglichkeit versickern wollten. Die Jahre der Wielandschule erbrachten eine Leistung, von der gerade in der Welt der Erwachsenen nie die Rede war. Es war und ist eine Selbstverständlichkeit, dass den Kindern Lesen und Schreiben beigebracht wird, mit der besonderen Betonung auf “beigebracht”. Genial sind die Nachkömmlinge ja eh schon seit Geburt, “hiatzt braochma nua nou lejsn oun schraebm kenna” (grazerisch für: Jetzt brauchen wir nur noch lesen und schreiben können). Ach ja eines hab’ ich vergessen, weil es auch nicht so wichtig ist: das Rechnen. Wenigstens in den Jahren bis 2000 zumindest war das Zusammenzählen wirklich nicht so wichtig, das machten ja andere, “g’schaetare” (grazerisch für Gescheitere). Die haben ja auch gelernt, wie viel a Quadrat und b Quadrat ist.
Aber dann – nach den vier wohlbehüteten Jährchen Wielandschule – kam der erste Härtetest, fiel die allererste offizielle Entscheidung. Natürlich wurde diese von meinen Eltern getroffen. Für mich. Ob ich wollte oder nicht, ich musste sie machen, die Aufnahmsprüfung. In Wahrheit fiel die Entscheidung seitens der Pestalozzi-Schule. Hätte ich denn diese Prüfung nicht bestanden, wäre ich nolens-volens statt in der Mittel-Schule in der Haupt-Schule gelandet. Und das hätte meinen Lebensweg zu diesen trüben Zeiten schon erheblich beeinflusst. Ich saß also an einem heißen, wunderschönen Spätsommertag im Chemie-Hörsaal mit aufsteigenden Bank-Reihen, damit man dem Vortragenden mit seinen Experimenten auch genau verfolgen konnte. Ich kann mich zwar nicht erinnern, was man von mir alles wissen wollte, aber nach drei Tagen wurde es klar: Ich war nun Mittelschüler. Erst später erfuhr ich die Unterschiede zwischen Realgymnasium und Bundesrealgymnasium und humanistischem Gymnasium. Fürs Erste hatte ich einmal den gigantischen Sprung in die elitäre Welt der gebildeten Erwachsenen geschafft. Den Sprung. Den ersten Sprung. Wieviele noch folgen sollten, davon hatte ich keinerlei Ahnung. Ich war also berechtigt zum Besuch der Mittelschule. Zum Besuch. Punktum. Mein Anlaufplatz in den kommenden acht Jahren lag an der Ecke Zimmerplatzgasse und Pestalozzistraße. Beinahe jeden Tag in diesem Zeitraum hatte ich mich um 07:45 Uhr bei Vormittagsunterricht oder um 13:45 bei Nachmittagsunterricht vor dem Portal, das sich kaum verändert hat, einzufinden, um die Basis für unser Weiterkommen zu empfangen.
Und die empfing ich ausführlich! An der Straßenecke Wielandgasse zur Schießstattgasse befand sich ein verwildertes grünes Grundstück. Da baute sich ein findiger Grazer einen kompakten Holz-Kiosk hin, befüllte ihn mit sich und einer Unmenge an Comics. Die waren nicht nur für den Verkauf gedacht, nein, nein! Man konnte sie auch gegen einen Unkosten-Beitrag von einem österreichischen Nachkriegs-Schilling sofort lesen und musste das Heftchen wieder unversehrt zurückgeben, zum Zwecke des Weiterverkaufs. Nach dem Unterricht bildeten sich vor dem Kiosk wahre Trauben aus den umliegenden Schulen. Ganz still waren diese Trauben. Und der Herr im Kiosk hatte ganz ganz flinke Augen. Außerdem kannte er seine Pappenheimer. Und wie er sie kannte. Er war der Herr Google der 1960er Jahre in diesem Teil des sechsten Grazer Gemeindebezirks. Sehr bald war ich hingegen befüllt mit dem Basiswissen über Comics. Da musste ich wahrlich auf das berühmte, schmackhafte Milcheis der Konditorei Ditté in der Grazbachgasse verzichten, das genauso einen Schilling kostete, wie auch die kleine Tüte Maroni zur Winterszeit, oder die kleine Tafel Haselnuss-Schokolade bei meinen Eltern oder die rosarote Kaugummi-Stange.
Aber viel interessanter fand ich den Geographie-Unterricht an der Pestalozzi-Schule, die bald zu “unserer” Schule wurde. Da schockierte mich vor allem der Glaube an die “Welt-Eislehre”. Die Vorgänge rund um diese Lehre sprachen für sich. Aber natürlich faszinierten mich die Theorien über die “Kontinentaldrift” des Herrn Alfred Wegener. Insgesamt saß ich wohl einige Stunden da und studierte die Umrisse unserer Kontinente. Damals, als ich gelehrt wurde, war Kontinentaldrift und Plattentektonik noch allgemein unbekannt. Hing man diesen Theorien an, war man sogleich als Revoluzzer verschrien. Aber daran hatte ich mich dank Schul-Information, was man immer wieder mit Bildung verwechselte und heute noch verwechselt, schon gewöhnt. Dazu kam noch das bischen Stolz, dass nämlich ein Deutscher seinen Lehrstuhl an der Grazer Universität besaß. Stundenlang saß ich vor dem Foto seines Propellerschlittens und bin immer wieder abgedriftet in die mir logisch erscheinende Verschiebung der Kontinente. Heute ist das alles Realität geworden, bestätigt durch satellitengeodätische Messungen.
Den Geographie-Unterricht empfand ich nicht nur als interessant, sondern zusätzlich als spannend und anregend. Der Bereich Geologie spornte meine grauen Ganglien zu Höchstleistungen an. Die Überformung unserer Landschaften, von Ebenen zu den Hügeln, dem Alpenvorland, Gebirgszügen bis hin zum Himalaya etwa. Gleichzeitig wurden mir die Zusammenhänge mit der Entwicklung der verschiedensten Kulturen klar. Auch hier bei uns, in Kärnten beispielsweise, oder in der Steiermark. Die Geowissenschaft hält mich bis heute aktuell. Die Spur zu den Quellen wurde durch unseren Klassenvorstand Prof. Knaus gelegt. Danke.
Eine wesentliche Rolle im Bilden von Eck-Punkten in meinem Leben spielte das Buch-Antiquariat im Keller des Eck-Hauses der Pestalozzistraße 6 zur Zimmerplatzgasse. Heute, am 28.10.2017, befindet sich an dieser Stelle ein indisches Restaurant. Die Stunden, Tage, wahrscheinlich waren es insgesamt Wochen, welche ich hier verbrachte lassen sich gar nicht zählen. Es war sehr heimelig da unten mitten unter den vielen Tausend Taschenbüchern. Der ältere freundliche Herr, der dieses Antiquariat betrieb, stand mit Rat und Tat dem hilflos Suchenden zur Seite. Bekam ich im Unterricht keine Antwort, wollte ich einem Thema auf den Grund gehen, fiel in der Schule irgendein Stichwort, das mich neugierig machte – in der Büchergruft in der Zimmerplatzgasse fand ich jede Menge an Antworten. Auch umfangreichere Werke, wie jene in althochdeutsch und mittelhochdeutsch fand ich hier. Meine Beziehung zur Literatur verdanke ich dieser Büchergruft und meinem Deutsch-Professor, Herrn Prof. Dr. Birker. Und einem Tür-Schild bei mir zu Hause. Auf der Zugangstür zu unserem Keller. Da stand auf schwarzem Hintergrund in ehemals gelben, auffälligen Lettern: “Bitte Thüre schließen”. Das Wort “Thüre” faszinierte mich. Vor allem das “Th”. Immer wieder sprach ich es aus, das th. Und tatsächlich, nach dem t war in Wirklichkeit ein h zu hören. Jahre später musste ich erfahren, dass es natürlich ein hörbares, auslautendes h nach dem t gab und dass sich heutzutage das t immer mehr zum d annähert, dass sich sozusagen das Sprech-Sprachliche dem Schrift-Sprachlichen annähert, weil man ja heutzutage das T ohne das auslautende h schreibt oder schreiben muss. Was sich jedoch in weiterer Folge kommunikatorisch entwickelt und weiter entwickeln wird, sei digital dahingestellt. Die Schriftsprache wird immer der Wissenschaft vorbehalten bleiben, Ränkespielchen und Intrigen, alles was man mit Öffentlichkeitsarbeit umschreiben könnte, der Sprechsprache. Das wird im Digitalen immer deutlicher.
Besagter Prof. Birker führte uns Mittelschüler auch in die Psychologie ein. Er machte dies bereits in Hochschulart, in Form von reinen Diktaten. Kam in die Klasse, griff sich seinen Vortrag, und begann zu diktieren. Wir schrieben eifrig und penibel mit und studierten, was uns da erzählt wurde. Manchesmal stieg ich aus, vor allem an den Stellen, die ich schon kannte. Aus meinen Studien der Schriften aus der Büchergruft. Weswegen ich mich auch einer ähnlichen Problematik zu wandte. Warum, weswegen stürzten sich zu dieser Zeit einige Zöglinge der BEA Liebenau (BEA = Bundes-Erziehungsanstalt) vom Turm dieser Anstalt in die Tiefe? Warum? Weswegen? Natürlich gab die Psychologie Blicke in diese Tiefe frei. Vieles davon kam auch an die Öffentlichkeit. In Form von diskursiven Anregungen durch Artikel in diversen Printmedien. Die Anstalt wurde daraufhin erfolgreich reformiert. Das Hallenbad dieser Anstalt durften wir hin und wieder benützen. Ich erinnere mich an die vielen Haarföhns, die zu dieser Zeit einen wahren Luxus boten und an das warme Wasser. Warum und wieso weiß ich nicht. Ich weiß nur, dass wir spielten und tollten wie See-Elefanten unter der Leitung unseres Klassen-Vorstandes.
Besonders anregend fand ich die Projektion von Dreidimensionalem auf das Zweidimensionale, die gegenseitige Durchdringung von Kugeln und Kegeln und Zylindern und Schachteln und Deckeln und sonstigen geometrischen Körpern. Ein Aha-Erlebnis jagte hier das andere. Darstellende Geometrie war für mich keine Belastung. Viele Fragen in mir fanden in diesem Bereich der Information ihre Antworten und boten darüber hinaus noch Lösungen für Zukünftiges. Genauso erging es mir mit der umfangreichen Welt der Physik. In ihren Bann schlug mich aber die Chemie! Und nicht nur mich! Bald fand sich eine Gruppe von Mitschülern, welche genauso vom chemischen Blitzstrahl getroffen worden waren.
Und als die Mutter des Kollegen Müller aus der Schießstattgasse unserer Interessengemeinschaft noch dazu ein Kämmerchen zur Verfügung stellte, damit wir dort ein Chemie-Labor mit allem Drum und Dran einrichten konnten, war es um uns geschehen. Wir bauten die waghalsigsten Experimentierstrecken und laborierten auf Teufel komm ‘raus! Und es dauerte nicht lange, bis wir den Teufel dann tatsächlich kennenlernen sollten! Dass sich in unserem Rücken ein riesiges Zimmer mit einer kompletten Modelleisenbahnanlage befand, noch dazu in Form einer sensationellen Modell-Landschaft mit Bergen, Seilbahnen und Seen, interessierte uns überhaupt nicht. Wir mixten und mischten Raketenbrenner und ‑zündstoffe, solange bis wir selber in die Luft gingen! Angeschlossen an das Haus war ein kleiner Garten. Dort befand sich ein Gartenhaus. Das wurde von uns sofort umfunktioniert zum Chemie-Labor zwei. Für alle hochbrisanten Projekte. Da wurde nur mit Hühnerfedern gemischt und gemixt. Anlässlich des Beginns der 5.Klasse starteten wir ein kleines Feuerwerk. Uns gegenüber befand sich ein Finanzamt und eine Post und im selben Gebäude auch eine Wachstube der Grazer Stadt-Polizei, weswegen wir uns auch als gut aufgehoben betrachteten. Wir zündeten die ersten Raketen. Die paar Zuschauer auf den umliegenden Balkonen applaudierten und machten “Ah!” und “Oh!” im zustimmenden Sinne. Was uns natürlich motivierte. Erst recht als Rufe zu vernehmen waren: “Draufgabe! Draufgabe!”. Da verloren wir die Übersicht. Was wir beide uns vorbehalten hatten, dass nur wir, Müller und ich, mischen durften, und dass wir das nur unter besonderer Vorsicht und mit Hühnerfedern taten, das alles vergaßen wir. Wir ließen andere ‘ran, Unerfahrene. Wir gönnten ihnen den Spaß! Wir ließen geschehen, was kommen musste. Ich sah noch wie sich eine Hand mit dem Porzellan-Mörser-Stößel auf das zu mixende Pulver senkte und eintauchte. Das reichte. Aus dem Mörser erhob sich eine Säule in den schönsten nie zuvor gesehenen Farben, schlugen nach unten durch den Tisch, trugen das Dach der Gartenhütte hoch in die Lüfte. Alles geschah für mich in völliger Stille und in einer Art Zeitlupe. Ich fühlte mich leicht wie ein Blatt, fühlte den Gartenzaun als Widerstand, obwohl die Gartenhütte einige Meter davon entfernt war. Offensichtlich flog ich wie einer meiner Vögel durch die Luft, begann über den Maschendrahtzaun zu klettern, rannte quer durch den Hof in den Keller, den ich gar nicht wirklich sehen konnte, nur ahnen. Ahnte auch die Waschküche links im Keller. Wusste, dass hier ein Wasserhahn sein musste, drehte ihn auf und hörte Wasser plätschern. Hielt meinen Kopf und meine Hände drunter, machte mich auf nach Hause. Nach Hause! Wie ich dorthin kam, durch die Gassen und über die Strassen, über die Geleise der Straßenbahn, daran erinnere ich mich nicht. Ich hatte Glück. Dankbares Glück! Mein Schulfreund Müller fehlte einige Tage, musste danach wochenlang bandagierte weiße Hände mit sich schleppen. Beide Hände. Er konnte nichts tragen, konnte nicht schreiben, nur mühsam essen. Im Fach Chemie wurden wir bis zum fröhlichen Ende mit einem jährlichen “Befriedigend” bedacht.
Es hat noch mehr Lieblingsgegenstände gegeben. Latein zum Beispiel, unter Prof. Spanbauer, der es mir wahrlich nicht leicht machte, das Konstruktive dieser Sprache zu begreifen. Und Englisch. Diese beiden Sprachen vertrugen sich nicht in mir. Das wurde mir erst später klar, als mir Gleichaltrige in London tief in die Augen blickten und mir beibrachten, ganz einfach zu reden und zu sprechen, so als spräche ich Deutsch. Alles andere sollte ich vergessen, vor allem mein Schulenglisch, das wäre aus dem Mittelalter. In diesem Augenblick hatte ich begriffen, dass Latein nur aufgrund von Literatur, von Medizin und von Dokumenten überlebt hatte und zu konstruieren war. Natürlich gab es Kollegen, die sich in dieser Sprache unterhalten konnten, die sogar dichteten und aus dem Stegreif Hexameter schaffen konnten. So wie einstens Ovid in seinen Metamorphosen “Das Goldene Zeitalter” verherrlichte. “Aurea prima sata est aetas, quae vindice nullo.…”, diese Zeitalters-Verse sind ganz tief eingegraben in meinen Ganglien. Sie wurden vorgetragen als “Aurea prima satast aetasque vindice nullo…”. Und manche Zeilen aus Cäsars “De Bello Gallico” tauchten im Laufe meines beruflichen Lebens immer wieder auf, Prof. Spanbauer zum Trotz. Schließlich kam noch Italienisch hinzu, nur zwei Schuljahre – viel zu wenig, wie ich fand.
Viel zu wenige Ausflüge gab es außerdem. An eine Fahrt nach Wien kann ich mich noch erinnern, unter dem Motto “Österreichs Jugend lernt ihre Bundeshauptstadt kennen”. Das war nach dem Abzug der Besatzungsmächte. Dieser Ausflug, der eine ganze Woche dauerte, ließ als eindrucksvollstes Ereignis das tägliche Mittagessen im Gasthaus “Spatzennest”, 1070 Wien, St. Ulrichs-Platz 1, zurück. Ganz besonders eingeprägt hat sich die Adresse. Warum? Wieso? Weshalb? Bis heute finde ich keine Antwort darauf. War es das Essen selbst? Dann wären da noch die Skikurse. Fotografisch hat der Kurs in Saalbach-Hinterglemm überlebt. Da hatten wir in unserem Zimmer, mithilfe der Tochter des Hauses, in dem wir untergebracht waren, eine kleine Punsch-Party veranstaltet.
Beinahe hätte ich auf den liebsten Gegenstand – um im Mittelschul-Jargon zu bleiben – vergessen, dem Zeit meines Lebens sehr viel Zeit gewidmet war und ist und verbleibt. Weil es mit dem Ich eines jeden von uns verbunden ist, ob wir es wissen wollen oder nicht. Dieses Verbunden-Sein bezeichnen wir als Geschichte. Und genauso hieß der Gegenstand auch. Was uns da beigebracht wurde, war äußerst spannend und interessant. Es wurde uns ziemlich lebensnah und realistisch näher gebracht. So, wie man Geschichte direkt nach zwei Weltkriegen empfinden musste. Immer wieder hörten wir dieselben Erlebnisse aus Narvik, wo unser Professor mit dem leuchtenden gelben Signal am Oberarm Wache schieben musste und dem Gegner offensichtlich eine traumhafte Zielscheibe abgab. Wir hatten auch einen Mitschüler namens Steinhart. Sein Vater war Jahre später einer meiner Professoren an der Grazer Kunst-Universität. Die Familie Steinhart flüchtete aus Ostdeutschland in den Westen. Sie überquerte unter Maschinengewehr-Feuer die Zonengrenze. Ein Bruder unseres Kollegen Alexander Steinhart kam dabei um. Verständlicherweise litt die ganze Familie unter den Erlebnissen der Flucht. Obwohl wir alle sehr neugierig waren, eines wussten wir: Alexander wollte seine Ruhe haben. Wenn man von ihm etwas wissen wollte, was sich für ihn und nur für ihn mit eben diesen Erlebnissen verband, zauberte sein Inneres ein abwehrendes, wenn nicht gar abweisendes, Lächeln in sein Gesicht. Für uns war das ein Signal, dass wir wieder einmal zu weit gegangen wären. Ohne es zu wissen. Wir taten in solch einem Fall alles, ich wiederhole ganz bewusst: alles, um den oder die Fehler wieder gut zu machen. Alexander ließ uns dies auch dankbar spüren und wissen. Nur bei unserem Geschichtsprofessor funkte dies nicht. Offensichtlich musste er Alexander eine bestimmte Frage stellen. Und als er ein Lächeln zur Antwort bekam, musste er dieselbe Frage wiederholt stellen. Und als das Lächeln nicht verschwand, stellte er die Frage noch ein paar Mal. Und dann griff er in seine Tasche und der schwere Schlüsselbund flog zielsicher. Ab diesem Augenblick war es für mich klar: An dieser Schule gab es nichts, aber auch gar nichts, was mich halten konnte.
Aber es gab auch Trost für dieses wohl beeindruckendste Schulabenteuer. Meine Jugendfreunde Purzi (Norbert Engele), Heinz Errath, Horst (der nachmalige Mormone), Werner Achtschin und der spätere Werbe-Manager (Vorname nicht erinnerbar) Payer, trugen einen von Muttern gestrickten 2‑Meter-Schal, ich trug dazu noch eine “Melone” auf dem Kopf, die von meinem Vater stammte. Das war unser Kostüm für den Besuch von Ausstellungen, Theater, Kabarett wie etwa “Der Würfel” im Forum Stadtpark. Natürlich kannte man uns bald.
In den 60er-Jahren kam bei uns in der Steiermark das Bowling auf und verdrängte das volkstümlichere “Kegeln”. Gleich in der Nähe der Heilandskirche am Kaiser-Josef-Platz, wo wir uns allwöchentlich trafen, eröffnete ebenfalls eine Bowlingbahn, in der Schlögelgasse. Grund genug uns im Anschluss an diese Treffen in einer dieser Bahnen anzusiedeln und das Bowling ernstlich zu erlernen, möglichst viele dieser “strikes” zu erreichen und mit den “Häusern” richtig umzugehen. Genauso wie wir das ja auch mit den viel schwereren Kugeln, den “balls”, erfahren mussten. Bald hatten wir es heraußen und brachten es meisterlich hin. Auch das sprach sich binnen Kurzem herum.
Was aber dieses ganze Schul-Kapitel mit den scharfen Ecken und Kanten zusätzlich in mir wach werden lässt, ist das Munterwerden des Zweifels an der Geschichtsfähigkeit der Menschen. Und dies führte mich damals zum leisen Verdacht, dass wir in statu nascendi seien, erst im Werden seien. Heute, 2017, weiß ich, dass wir das sind und dass dieses Werden bedeutende Unterstützung erfahren wird, etwa durch das bedingungslose Grundeinkommen.