Legenden, Mär und tiefere Bedeutung

Anfang der 1960er-Jah­re gär­te es in Graz. Mei­nungs­bild­ner der stu­den­ti­schen “Akti­on” waren unter­wegs. So schien es. Ich jeden­falls war ihnen nicht ent­kom­men. Sie waren über­all und nir­gends. Sie waren genau dort, wo ich mich eben­falls umher­trieb. Sie waren nur eini­ge Weni­ge, dafür waren sie aber flott und tüch­tig unter­wegs. Sie fan­den auch ihren Weg in die damals noch so bedeu­ten­de loka­le Pres­se. Und somit wur­de heiß dis­ku­tiert in den Clubs und Cafés und genau­so an den Stamm­ti­schen. Sicher­lich debat­tier­te ich mit, aber viel, sehr viel inter­es­san­ter fand ich alles, was ich auf­sau­gen konn­te, alles, wovon ich wuß­te, dass ich es zukünf­tig auch gebrau­chen konn­te. Zur Stei­ge­rung der Effi­zi­enz. Das reich­te vom akus­ti­schen flie­ßen­den Über­gang von Kon­so­nan­ten zu Voka­len, oder dem Neu-Anset­zen von Wör­tern im Gedan­ken- und Wort­fluß, reich­te vom sprung­haf­ten “Ich lie­be Dich”- zum “Ich has­se Dich”-Gefühl und der kör­per­sprach­li­chen Mit­tei­lung des­sel­ben. Alles das hat­te abso­lu­te Prio­ri­tät. Natür­lich dis­ku­tier­te ich mit über das Für und Wider bezüg­lich der Ein­rei­se eines Herrn Otto Habs­burg, den ich Jähr­chen spä­ter in Strobl am Wolf­gang­see als Kopf der “Pan­eu­ro­pa-Bewe­gung” ken­nen­ler­nen soll­te. Der also – unter bestimm­ten Bedin­gun­gen – ein­rei­sen durf­te. Aber damals berühr­te mich die Pro­ble­ma­tik nur am Ran­de, wur­de gar nicht rea­lis­tisch wahr­ge­nom­men – nicht bloß von mir. Auch dass es über­haupt einen Innen­mi­nis­ter gab, drang erst ins Bewusst­sein vor, als FPÖ und Kro­nen­zei­tung mit grö­ße­ren Geld­sum­men aus der Gewerk­schafts­kas­se in Zusamm­men­hang gebracht wur­den, was im seit 1945 klein gewor­de­nen Öster­reich die Wogen der­art hoch­ge­hen ließ, dass wohl nie­mand mehr unbe­rührt geblie­ben war. Letzt­lich muss­te ein undurch­sich­ti­ger Herr namens Olah als Innen­mi­nis­ter sein Amt einem Par­tei­kol­le­gen zur Ver­fü­gung stel­len. Da tra­ten auch die letz­ten Erd­öl-Lie­fe­run­gen an die UdSSR gänz­lich in den Hin­ter­grund, wur­den von uns kaum wahr­ge­nom­men, genau­so wie es für uns in der west­li­chen Hemi­sphä­re ja nicht ein­mal die gefürch­te­ten USIA-Betrie­be gege­ben hat­te. Obwohl die Lösung des Pro­blems jeden ein­zel­nen Öster­rei­cher – eben­so die im soge­nann­ten “Wes­ten” – betrof­fen hat­te. Aber das woll­te man gar nicht so genau wis­sen. Obwohl auf höhe­rer und höchs­ter Ebe­ne alles getan wur­de um Öster­reich ein­heit­lich dar­stel­len zu kön­nen, war der “Osten” und der “Wes­ten” ganz ein­deu­tig spür­bar. Und auch drei­und­sieb­zig Jah­re nach der Kapi­tu­la­ti­on irgend­wel­cher grau­en­haf­ter Träu­mer vor der Welt ist man­cher­orts die­se Spal­tung noch zu ver­spü­ren. Das hat zu tun mit grund­sätz­li­chen Auf­fas­sun­gen von Demo­kra­tie einer­seits und den viel­fäl­ti­gen gegen­tei­li­gen Herr­schafts­for­men ande­rer­seits. Ein Nim­mer-wie­der-Füh­len die­ser Trenn­li­ni­en wird es aus­schließ­lich dann geben, wenn wir irgend wann ein­mal die alten mon­ar­chi­schen und natio­na­lis­ti­schen Fes­seln abge­sprengt haben, zu einem – für Nicht-Euro­pä­er sicher­lich noch uner­wünsch­ten – Euro­pa der Regio­nen gefun­den haben. Wo es rea­lis­tisch wird, dass Gene­ra­tio­nen hin­durch ver­schie­den­ar­ti­ge Spa­ni­er und Fran­zo­sen und Ita­lie­ner und Deut­sche und so wei­ter exis­tie­ren. Wo “See­wink­ler” tat­säch­lich See­wink­ler und nicht nur irgend­ei­ne Unter­grup­pe von Ost­ös­ter­rei­chern, der ehe­ma­li­gen Kri­sen­re­gi­on “Ost”, sein dür­fen. Wir soll­ten uns selbst, den Bewoh­nern die­ses Kon­ti­nents, die­se Chan­ce geben. Damit wäre auch der Ver­such des all­sei­ti­gen “Hoch­schwim­mens” been­det, was sowie­so nur zum Spie­ler­tum füh­ren muss.
Wer hät­te damals gedacht, dass die Welt mit Anbruch mei­ner aka­de­mi­schen Aus­bil­dung ver­gleichs­wei­se leer war, unbe­sie­delt, wer hät­te damals gedacht, dass Schil­de­run­gen über die Erobe­run­gen der “Dampf­rös­ser” bei Wei­tem über­trof­fen wer­den wür­den, dass kein Stein auf dem Ande­ren blei­ben, dass alles ganz anders wer­den wür­de und kei­ner wuss­te wie das aus­schau­en wür­de, wer hät­te damals gedacht, dass es in Euro­pa eine Viel­zahl von Radio- und Fern­seh­pro­gram­men geben wür­de, dass vom ehe­ma­li­gen elek­tro­ni­schen Medi­en­mo­no­po­lis­ten mög­lichst vie­le Fre­quen­zen belegt wer­den müß­ten, um sei­ne Exis­tenz abzu­si­chern, dass er neid- und eifer­suchts­voll beob­ach­tet wer­den wür­de, wegen der soge­nann­ten Hörer- und Seher­ge­büh­ren. Denn alles hat­te und hat sei­ne Be-Grün­dung auf dem “Damals”. Das Damals aller­dings soll­te mit einem Mal weg­bre­chen. Das war mit dem Auf­tau­chen der Digi­ta­li­sie­rung schon klar und kon­kret. Es wur­de zwar ver­sucht, dem Ein­halt zu gebie­ten, aber ele­men­ta­re Ereig­nis­se las­sen sich nicht auf­hal­ten, also ließ man es weg­bre­chen. Nach wel­chen Geset­zen die­ses “Ele­men­ta­re” abläuft, weiß die Mensch­heit nicht. Wir Mensch­lein wis­sen nicht ein­mal war­um es vor grau­en Jah­ren so weni­ge Män­ner auf die­ser Welt gab, dass durch­schnitt­lich sieb­zehn Frau­en auf einen ein­zi­gen Mann gekom­men sind. Mög­li­cher­wei­se stam­men daher die gehei­men Träu­me von der Macho-Exis­tenz!
Rund um mich her­um waren in die­sen Zei­ten – mit ganz weni­gen Aus­nah­men – nur Stu­den­ten. Das bedeu­te­te auch, dass sich für mich eine eige­ne Welt öff­ne­te, zu öff­nen begann. Prio­ri­tä­ten ver­scho­ben sich, Ober­fläch­lich­kei­ten wur­den tie­fer, Aus­drucks­wei­sen prä­zi­sier­ten sich, Sicht­wei­sen und Pan­ora­men wur­den bunt und viel­fäl­tig. Ände­run­gen am poli­ti­schen Sys­tem hier­zu­lan­de wur­den kon­keter und kon­kre­ti­siert. Eine Ahnung von Unzu­frie­den­heit befiel uns und mich.
Da platz­te auf ein­mal das Wort “Ich bin ein Ber­li­ner” in das Gesche­hen rund um mich her­um, damit wur­de auch die inter­na­tio­na­le Rol­le die­ser ehe­ma­li­gen Haupt­stadt des nicht mehr exis­ten­ten Nach­bar­staa­tes wie­der klar und als in die­sem Jahr dann noch der Spre­cher die­ser “4 Wör­ter” ermor­det wur­de, und der angeb­li­che Mör­der selbst eben­falls, da wur­de es schön lang­sam unbe­hag­lich. Bis heu­te. Die­ses Unbe­hag­li­che ver­bin­det sich mit der “I Have A Dream”-Rede von Mar­tin Luther King, ver­bin­det sich mit dem Beginn des Bür­ger­kriegs auf Zypern, den Vor­komm­nis­sen im Iran rund um das müh­sam auf­ge­bau­te Mär­chen­paar Farah Diba und Reza Pah­le­vi, dem Schatz im öster­rei­chi­schen Toplitz­see, bestehend aus gefälsch­ten bri­ti­schen Pfund­no­ten. Die Unter­zei­chung des Atom­test­stopp-Abkom­mens drängt sich mir da noch auf und der legen­dä­re Post­zug-Raub in Groß-Bri­tan­ni­en, deren Täter ganz Öster­reich bewun­der­te. War­um wohl? Der abs­trak­te Begriff des Gel­des scheint der größ­te Feind des Men­schen zu sein – glo­bal und gene­rell und über­haupt. Was mich an unse­re syri­schen Freun­de Yus­suf und Hus­sein erin­nert, die behaup­te­ten, dass bei ihnen zu Hau­se die Fein­de der Mensch­heit auf den Palast-Vor­platz  bei Damas­kus ver­bannt wor­den sei­en, um sich dort gegen­sei­tig zu bekämp­fen und den Rest der Bevöl­ke­rung in Ruhe zu las­sen. Wie sich dies wie­der­um mit dem Islam von damals ver­tra­gen hat­te, wer von den Bei­den wel­cher Islam-Grup­pie­rung ange­hört hat­te, haben wir nie hin­ter­fragt. Aber offen­sicht­lich waren Bei­de auf­sei­ten der Libe­ra­li­tät. Wie man aller­dings heu­te hört und sieht und liest, hat die­ses Expe­ri­ment auch nicht den gedach­ten Effekt erreicht, ganz im Gegen­teil.
Schwer betrof­fen hat mich in die­ser Zeit der Tod von Edith Piaf. Es hat schon ein paar Tage gedau­ert bis ich begrif­fen hat­te, die­se Per­sön­lich­keit aktiv nur noch von Kon­ser­ve zu hören und zu sehen. Nie wie­der wür­de sie mich mit aktu­el­len Bemer­kun­gen, mit neu­en Gedan­ken, mit ihren intui­ti­ven Chan­sons und Lie­dern wei­ter­hel­fen. Ich hat­te sie schon begrif­fen. Das war auch gut so. Und das war es dann.

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