Mitten in den Kessel bin ich gefallen weil ich nicht wusste, was mich da erwartete. Ich bin meinen Eltern rein-gefallen. Dass Kessel so schön sein können, so eindrucksvoll, so laut, so tosend und voller wässrigen Nebel und voller Leben, so elementar, dass Felsen ohne Kanten sein können, rund und ästhetisch schön geschliffen, dass Bäume und Bäumchen selbst in den kleinsten Spältchen noch wurzeln können – nie hätte ich mir das denken oder vorstellen gekonnt. Aber ich habs gesehen, als Kind in einer Zeit als Klettersteige noch nicht das waren, was sie heute sind. Es waren einfache Balken, mit rohen Stämmchen als Stufen dazwischen, alle paar Meter die Stützen für das Geländer, roh behauen, aber sicher, hundertprozentig sicher – bis zum nächsten Unwetter. Abenteuerlich. Eine Herausforderung für Kinder. Die Herausforderung zu erfahren und um das Wissen, wie man sich am Besten in solchen Umgebungen bewegt. Das wars. Und obwohl die Abstände zwischen den einzelnen Hölzern, den Treppenstufen, für Kinder ziemlich groß waren, hatte ich es bald heraußen, mich auf diesen Klettersteigen sicher zu bewegen. Da toste unter mir das Wasser, manches Mal spritzte es bis herauf zu mir. Wenn ich auf die Stufe, das Holz da schaute, bewegte sich alles andere in einiger Entfernung mit, nur das Holz und meine Beine blieben relativ ruhig, schaute ich auf das tosende Wasser hinunter, drehte sich alles rund um mich her. Ich musste höllisch aufpassen, setzte manchmal beide Füsse auf das jeweilige Stufenholz und kletterte auf diese Art weiter. Ja, anfangs hatte ich Angst hinunter zu fallen, zwischen den einzelnen Stufenhölzern hindurch. Viel leichter ging es, wenn da unten nur Felsen waren oder eine Mischung aus dem Grau und aus Grün.
Dass Pflanzen und Pflänzchen an Stellen wachsen können, wo es sich Menschen nicht vorstellen können, an den unwahrscheinlichsten Stellen, war für mich erst durch die Begehung von Klammen, Kesseln und Bächen und Wasserfällen real. Was ich bis dahin in Form von Erzählungen, von “Sagern”, von Bildern und Beschreibungen gehört, gelesen oder angeschaut hatte, wurde plötzlich Wahrheit, existierte in mir. Es wurde zur Tatsache. Unwiderlegbar.
Klamm-ähnliche Bachläufe, einige Meter lang, gab es viele. Aber meine erste echte Klamm war der Kesselfall. Zum Lernen wahrscheinlich ideal, dachte sich vielleicht mein Vater. Ich ging damals noch nicht in die Volksschule und Kindergarten kam für mich nicht in Frage, ich gehörte ja nicht zur Hautevolee von Graz! An das “Steintor”, durch das der Kesselfall betretbar war, kann ich mich noch erinnern, an eine Beleuchtung des Falles, wie auf der Ansichtskarte zu sehen, allerdings nicht.
Kurz darauf, ich ging schon zur Volksschule, erfolgte der nächste Schritt. Ein bedeutender Schritt. Wir brachen eines schönen Sonntagmorgens auf in die Bärenschützklamm. Meine Eltern erzählten mir schon am Vorabend grausliche, aber auch interessante und teilweise schöne Geschichten über diese Klamm und versicherten mir, dass es heutzutage keine Drachen und Bären gäbe. Bären könnte es 2017 schon wieder geben, so sie in diesen Gegenden in letzter Zeit renaturalisiert worden sind. Die Umgebung von Mixnitz forderte das Geschichten-Machen geradezu heraus. Vor allem die “Drachenhöhle”. Diese durfte ich dann viele Jahre später mit steirischen Höhlenforschern begehen und bekriechen, mit Karbidlampen versuchen, den Dom auszuleuchten, mit staunendem Unterkiefer vor einem Syphon gefüllt mit tatsächlich glasklarem Wasser stehen und liegen, durch Felsspalten schlupfen. So lernte ich auch unsere Unterwelten kennen, Stalagmiten und Stalaktiten, Gangformationen, Höhlen. Faszinierend. Am Ende hatte uns die Oberwelt wieder. Wir waren zwar lehm- und dreckverschmiert, aber das Tageslicht und die vielen Farben um uns herum machten das soeben Erfahrene ganz bewusst. Ja, wir lebten auf diesem Planeten, auf dieser Erde. Die “Drachenhöhle” war die erste Erfahrung der Unterwelt. Als die “Lurgrotte” durchgehend von Semriach bis Peggau begehbar war, kam ich ein paar Wochen zu spät. In dieser Zeit zerstörte ein Unwetter alles was begehbar war. Aber zurück zur Bärenschützklamm.
Mich interessierte an dieser Klamm vor allem, wie die Steige angelegt waren. Da wurde die Lage der Felsen clever ausgenützt, mit Leitern verbunden, wo es vertretbar war, wurde der Lauf des Wassers überbrückt. Da wurde der Natur nicht mit Technik zu Leibe gerückt, da wurde nur Holz verwendet, nicht gesprengt, gebohrt, kunstvoll Seile oder sonstige Träger versteckt angebracht, damit ein Schein entstünde. Nein, das konnte man sich noch gar nicht leisten, damals in den 1950ern oder 1960ern. Man hatte Baumstämme unter den Füßen, manchesmal waren sie feucht, manchesmal auch nass, aber man hatte ja links und rechts weitere Baumstämme oder Äste zum Anhalten. Und die ganzen Konstruktionen waren fest und hielten – so sie nicht weggeschwemmt worden sind. Dann waren die Klammen ein paar Tage nicht begehbar. In der Zeit hat man wiederum Bäume gefällt, entrindet und weiter verarbeitet und zusammengenagelt. Genauso raffiniert wie jene vom letzten Mal. Und so ist wieder eine hohe Leiter entstanden. Neben und unter der sich das klare Wasser über die Felsen hinunter zur Mur nagt und bahnt. Jahrtausende. Jahrmillionen. In der Bärenschützklamm. Bei Mixnitz im Murtal.