Dieter Dorner

Dieter Dorner bei Ö3, im Juli 1971.
Die­ter Dor­ner im Juli 1971 bei Ö3. Die­ses im deutsch­spra­chi­gen und auch im angren­zen­den Ost- und West-Raum revo­lu­tio­nä­re Radio-Pro­gramm domi­zi­lier­te damals noch im Dach­ge­schoss des Funk­hau­ses in der Argen­ti­ni­er­stra­ße in Wien. Wir haus­ten sozu­sa­gen über den Köp­fen der ORF-Gene­ral­inten­danz und tanz­ten Herrn Gerd Bacher auf der Nase umher. Die Zen­tra­le am Künigl­berg war damals gera­de im Bau.

Es war ein wun­der­schö­ner Som­mer­tag. Noch war alles ruhig. Es muss­te also so um sechs Uhr mor­gens gewe­sen sein, als mich Eva und Die­ter von Zuhau­se abhol­ten. Eva Schäf­fer saß am Steu­er ihrer Renault Dau­phi­ne. Tref­fen­der wäre die Bezeich­nung “Steu­er-Rad” wegen der all­seits gerun­de­ten For­men der Karos­se­rie, wofür die­se auch den Begriff Pon­ton-Karos­se­rie ver­passt bekam. Der Heck­mo­tor surr­te beru­hi­gend im Rücken der Pas­sa­gie­re, dafür befand sich der Gepäck­raum dort, wo sich nor­ma­ler­wei­se der Motor befand. Eva hat­te den Füh­rer­schein erst vor ein paar Tagen bekom­men. Wir hat­ten mit unse­rer Kol­le­gin ver­ein­bart, dass wir ihre ers­te gro­ße Aus­fahrt gemein­sam absol­vie­ren wür­den. Und zwar hin­un­ter nach Jugo­sla­wi­en, denn da wür­de Eva am bes­ten und ehes­ten Pra­xis beim Auto­fah­ren erfah­ren kön­nen. Dabei dach­ten wir an die Stra­ßen­zu­stän­de in die­sem Nach­bar­land. Die­ter und ich hat­ten schon ein wenig Erfah­rung sam­meln kön­nen im Zuge unse­rer oft­ma­li­gen Besu­che in Die­ters Wein­gar­ten in Novi Vrh, in der Gegend des ehe­ma­li­gen Ober-Mureck auf jugo­sla­wi­schem Staats­ge­biet. Ich brei­te­te mich also auf der hin­te­ren Sitz­bank aus und mach­te es mir gemüt­lich. Wir star­te­ten. Zunächst in Rich­tung Grenz­über­gang Spielfeld/Sentilj. Obwohl wir auf der gefürch­te­ten und damals schon heiß-dis­ku­tier­ten “Gast­ar­bei­ter-Rou­te” unter­wegs waren, war der Ver­kehr ruhig und gemüt­lich. Er hat­te sich die­sem schö­nen Som­mer-Sonn­tag ange­passt. Zunächst tas­te­ten wir uns durch die Lan­des­haupt­stadt hin­durch auf die rech­te Sei­te der Mur, durch Strass­gang, dann fuh­ren wir durch Wil­don, wo einst die “wil­den Her­ren” haus­ten und die Ost­gren­ze des dama­li­gen Sied­lungs­rau­mes bis hin­über nach Kirch­schlag mit einer Viel­zahl von Bur­gen befes­tig­ten und ver­tei­dig­ten. Wir husch­ten dann an dem bekann­ten aber bereits ver­fal­le­nen Fla­via Sol­va vor­bei. Eini­ge Kilo­me­ter vor der Gren­ze muss­te Eva dann rechts ran fah­ren, denn über die Gren­ze selbst steu­er­te Die­ter. Als Öster­rei­cher der in Jugo­sla­wi­en einen Wein­gar­ten, also ein Grund­stück besit­zen durf­te, nahm er am “klei­nen Grenz­ver­kehr” zwi­schen den bei­den Staa­ten teil. Eva und ich hat­ten zwar unse­re Rei­se­päs­se bei uns, aber die woll­te gar nie­mand sehen, weder irgend­je­mand auf der öster­rei­chi­schen noch auf der jugo­sla­wi­schen Sei­te. Man wink­te uns fröh­lich lachend durch, kaum hat­te Die­ter sei­nen Grenz­ver­kehrs-Aus­weis hin­aus gehal­ten. Knapp hin­ter Sen­tilj  wech­sel­ten wir wie­der das Steu­er-Rad und surr­ten unter der Lei­tung von Kol­le­gin Eva Schäf­fer durch ein unbe­kann­tes Jugo­sla­wi­en Rich­tung Mari­bor und Ptuj. Die Rich­tung kann­ten wir, die Gegend noch nicht. Das heißt, die Land­schaft schon. Sie war näm­lich der unse­ren schon ver­dammt ähn­lich. Mari­bor schien Klein-Graz zu sein, auch hier floss ein Fluss durch das Städt­chen, noch dazu einer der aus Öster­reich kam, die Dra­va, die Drau. Eva schlug sich wacker am Steu­er-Rad ihrer Dau­phi­ne. Bis­her fuh­ren wir auf bereits asphal­tier­ten Stra­ßen mit ganz wenig Ver­kehr. Im Mit­tel­punkt unse­rer Gesprä­che stand natür­lich das Auto all­ge­mein und das Fah­ren mit die­ser Mix­tur aus Karos­se­rie und Sitz­ge­le­gen­heit, aus Wet­ter­schutz und mobi­lem Motor. Das rich­ti­ge “Schal­ten” und Kup­peln war Dau­er­the­ma auf die­ser Fahrt, das Brem­sen nicht so sehr, das wur­de eher neben­her behan­delt. Und hin und wie­der durf­te ich eini­ge Male etwas aus dem Hin­ter­grund ein­wer­fen, wenn mir in unse­rer vor­bei zie­hen­den Land­schaft da drau­ßen irgend­was bemer­kens­wert Auf­fäl­li­ges auf­ge­fal­len war.  Natür­lich blö­del­ten wir auch aus­gie­bigst umher. In der Fer­ne konn­ten wir bereits das Schloss von Ptuj sehen. Auf einem etwas höher gele­ge­nen Hügel, weit und breit der höchs­te in der gan­zen Gegend. Wahr­schein­lich bezeich­ne­te man die­sen hier als Berg. “Berg” hiess “vrh”, gespro­chen wie “wrch”. Wobei das “ch” so aus­ge­spro­chen wur­de – und noch immer wird – wie das “ch” im deut­schen Wört­chen “ich”. Auf die­ses Wis­sen waren wir ganz stolz. Wer unter uns Jugend­li­chen kann­te und konn­te schon slo­we­nisch! Auf die­sen “Vrh” hiel­ten wir also zu. Mitt­ler­wei­le war es bereits Mit­tag gewor­den und unse­re Mägen began­nen leicht zu kra­chen. Wo eine Burg ist, gibt es auch eine Taver­ne, sag­ten wir uns und fuh­ren unver­zagt durch die Vor­or­te von Ptuj. Die Stra­ße wur­de steil und stau­big, weil noch nicht asphal­tiert. Aber das stör­te nicht. Es ging berg­auf, dem Essen näher! Und tat­säch­lich! Da gab es sogar einen klei­nen impro­vi­sier­ten und des­we­gen auch bei­na­he über­vol­len Park­platz und eine Trep­pe, an die ich mich erin­ne­re. Wir klom­men die aus­ge­tre­te­nen Stu­fen aus purem Stein empor, betra­ten einen über­füll­ten Saal, erober­ten drei Sitz­plät­ze und wur­den auch gleich in der damals gül­ti­gen Ein­heits­spra­che, auf ser­bo­kroa­tisch, irgend­et­was, was wir über­haupt nicht ver­stan­den, gefragt. Jeden­falls ver­such­ten wir uns auf eng­lisch und auf deutsch zu ver­stän­di­gen und waren ganz scho­ckiert, als wir von dem Herrn Ober in deut­scher Spra­che die Spei­se- und Geträn­ke­kar­te vor­ge­be­tet beka­men. Offen­sicht­lich war der Herr Ober tou­ris­mus­ge­wohnt. Den­noch waren wir geschockt, hat­ten wir uns das doch gar nicht erwar­tet. Mit­ten in Jugo­sla­wi­en, in Ptuj! Dass Ptuj ein­mal unter dem Geschlecht der Her­ber­steins stand und vor grau­en Jah­ren Teil der Unter­stei­er­mark war, wuss­ten wir damals noch nicht. Aber viel mehr beein­druck­ten uns jene Her­ren, die da plötz­lich durch eine Tür her­ein­ka­men, wel­che offen­sicht­lich von irgend­wel­chen obe­ren Gemä­chern her­un­ter­führ­te. Sie tra­ten in vol­ler Uni­form, also in vol­ler Mon­tur, mit Orden und Span­gen auf. An den Krä­gen und Schul­tern blitz­te es, sodass ihre Beglei­te­rin­nen fast in der Bedeu­tungs­lo­sig­keit ver­san­ken. Sie waren durch­wegs blond­ge­färbt, bei­na­he weiß, und hat­ten blut­ro­te Lip­pen und hoch­ge­schnall­te Brüs­te mit ahnungs­vol­len üppi­gen Dekol­le­tes und dar­un­ter ein­engen­de Kor­setts. Es ver­schlug uns eigent­lich alles, bis wir bemerk­ten, dass es rings­um­her ziem­lich still gewor­den war. Wir blick­ten uns ruhig und wis­send an, gewan­nen nach einer Fas­sungs-Minu­te wie­der die Über­sicht und unter­hiel­ten uns über unse­re Fahrt, so als ob dies für uns obers­te Prio­ri­tät hät­te. Unge­rührt und unbe­rührt von irgend­wel­chen Vork­om­nis­sen unter­hiel­ten wir uns über unse­ren Rei­se­ver­lauf. Etwas lau­ter als üblich. Der Herr Ober kom­pli­men­tier­te die Her­ren und auch deren Beglei­tung in einen vor­be­rei­te­ten Extra-Raum, sodass es rund um uns wie­der lau­ter wer­den konn­te, etwas lau­ter als vor­her – so schien es uns. Erst nach unse­rem aus­gie­bi­gen Din­ner, als wir wie­der­um in “unse­rer” Dau­phi­ne saßen und wuss­ten, dass nie­mand mehr mit­hö­ren konn­te, brach alles, was die­ses Ereig­nis in uns frei­ge­setzt hat­te, aus uns her­aus. Wer in die­sem Land etwas zu sagen hat­te, wur­de uns klar und ein­deu­tig vor Augen geführt: Es waren Män­ner in Uni­form. Es waren Män­ner, die sich allem und jedem und jeder bedien­ten. Wider­spruchs­los. Es wur­de uns vor Augen geführt, wie man die­se vie­len Völ­ker und Kul­tu­ren in die­sem Land zügelt. Wir haben, als Öster­rei­cher, durch­aus pro­fi­tiert davon, in den Jah­ren des Kal­ten Krie­ges. Vor allem vom Zwist zwi­schen Sta­lin und Tito, von Tito´s Idee von der “drit­ten Front”, den halb­wegs neu­tra­len Staa­ten zwi­schen Ost und West. Und wenn jemand glaub­te trotz­dem wider­spre­chen zu kön­nen, dann soll­te es ihm so erge­hen, wie jenem Mann, den Die­ter und ich am jugo­sla­wi­schen Ufer der Mur, an der Mur selbst, zwi­schen zwei Sol­da­ten am Boden lie­gend erle­ben durf­ten. Ganz bewußt mit­er­lebt hat­te ich damals eigent­lich nur die Gewehr­kol­ben, wel­che abwech­selnd auf den am Boden Lie­gen­den hin­un­ter­zisch­ten, den Mann zusam­men­schlu­gen. Die Grenz­sol­da­ten hin­ter die­sen bru­ta­len, höl­zer­nen Kol­ben nahm ich gar nicht wahr, ich sah nur das Auf und Ab der Kol­ben. Jedes­mal wenn sie auf den Men­schen prall­ten, bäum­te sich der Kör­per auf. Offen­sicht­lich ver­schwand das Leben schon aus ihm. Die­ter gab sei­nem 600er Fiat mit Gra­zer Kfz.-Kennzeichen instink­tiv Gas, und wir mach­ten uns davon in einer Staub­wol­ke mit hil­fe­ru­fen­den Vier­zy­lin­der-Kol­ben. Wir sel­ber waren still und stumm. Solan­ge bis wir in Novi Vrh ange­kom­men waren und aus­ge­zit­tert hatten.

Dieter Dorner auf der Studiobühne im Palais Meran. Er versuchte sich damals in der realitätsbezogenen Umsetzung eines klassischen Monologs. Welcher das genau war daran kann ich mich leider nicht mehr erinnern - Clavigo?
Die­ter Dor­ner auf der Stu­dio­büh­ne des Palais Meran. Er ver­such­te sich damals in der rea­li­täts­be­zo­ge­nen Umset­zung eines klas­si­schen Mono­logs. Jeder Satz, jedes Wort muss­te nach dem Heu­te durch­dacht und in der Spra­che von ges­tern aus­ge­drückt werden.

Die Fahrt zurück von Ptuj nach Graz war eine sehr roman­ti­sche Rei­se. Durch die Hügel­land­schaft der ehe­ma­li­gen Unter­stei­er­mark, wo nach jedem Hügel die Welt anders aus­sah, über Feld­we­ge, Schot­ter­stra­ßen und Bäch­lein hin­weg. Kol­le­gin Eva Schäf­fer hat­te das Diplom in der Füh­rung ihrer Renault Dau­phi­ne red­lich ver­dient. Am spä­te­ren Nach­mit­tag kamen wir dann in Rad­go­na an, dem jugo­sla­wi­schen Teil Rad­kers­burgs an der Mur, vor­bei am mäch­ti­gen Schloss von Ober-Rad­kers­burg. Was Jugo-Sla­wi­en bedeu­te­te, wuß­ten wir bereits, auch dar­auf waren wir ganz stolz: Süd-Slo­we­ni­en hieß unser Nach­bar­staat auf öster­rei­chisch! Es hät­te damals also auch ein Nord-Slo­we­ni­en geben müs­sen, aber anstel­le des­sen gab es his­to­risch bedingt und ver­brieft bereits ein klei­nes Länd­chen namens Öster­reich. Die­ses Länd­chen war uns also am ande­ren Ufer zum Grei­fen nahe. Das Grenz-Städt­chen Rad­kers­burg. Uns trenn­te nur eine enge, höl­zer­ne Brü­cke. Die jugo­sla­wi­schen Grenz­sol­da­ten beäug­ten uns und unse­re Rei­se­päs­se inklu­si­ve Die­ters Grenz­über­gangs­aus­weis zwar sehr miß­trau­isch und schie­nen Geschrie­be­nes etwas län­ger zu stu­die­ren, aber schließ­lich hol­per­ten wir doch wohl­be­hal­ten in die ver­trau­te Atmo­sphä­re unse­res Zolls und unse­rer Gen­dar­me­rie. Erleich­tert fuh­ren wir am hoch­ge­stell­ten Grenz­bal­ken vor­bei. Durch die Ost-Stei­er­mark zurück nach Graz zu fah­ren war damals wegen der feh­len­den Infra­struk­tur noch nicht emp­feh­lens­wert, also gon­del­ten wir der Mur ent­lang nach Leib­nitz und von dort über Wil­don wie­der nach Hau­se. Es war wirk­lich ein wun­der­schö­ner Tag. Ein Tag, der im Fahr­plan unse­res Lebens nicht feh­len darf, zumin­dest nicht in mei­nem Fahrplan.

Dieter Dorner (links) und Meinrad Nell (rechts) versuchen auf der Studiobühne des Palais Meran Bäume darzustellen.
Die­ter Dor­ner (links) und Mein­rad Nell (rechts) ver­su­chen auf der Stu­dio­büh­ne des Palais Meran Bäu­me darzustellen. 

Ken­nen­ge­lernt hat­ten wir ein­an­der anläss­lich der Auf­nahms­prü­fung an der Aka­de­mie in der ehe­ma­li­gen Bade­an­stalt in der Lich­ten­fels­gas­se. Von dort war es nicht weit zu sei­nem dama­li­gen Arbeits­platz an der Tech­ni­schen Uni­ver­si­tät. Man ging ganz ein­fach nur die Les­sing­stra­ße hin­un­ter und schon war man bei der “TU”, wie man in Graz sag­te. Im Haupt­ge­bäu­de gab es dort eine Art Foto­la­bor, wo in wei­te­rer Fol­ge der foto­gra­fi­sche Teil unse­rer Büh­nen­bil­der ent­ste­hen durf­te. Die Bil­der an der fik­ti­ven Wand unse­rer Abschluss­ar­beit “Blick zurück im Zorn” John Osborne´s etwa. Auf­grund mei­ner Kennt­nis­se im bild­ge­ben­den Bereich assis­tier­te ich bald dabei. Wir tra­fen ein­an­der aber auch wenn wir Fra­gen hat­ten oder irgend­ein Pro­blem, das nicht unbe­dingt mit unse­rem zukünf­ti­gen Beruf zu tun hat­te. Auf­ent­hal­te in ande­ren Län­dern spiel­ten da eine nicht unwe­sent­li­che Rol­le. So erfuhr ich zum ers­ten Mal von Die­ters Grie­chen­land-Traum. Und bei­na­he wären wir im dar­auf fol­gen­den Som­mer mit dem 600er Fiat gemein­sam auf Kithi­ra gelan­det. Dass aus die­ser Insel süd­lich des Pelo­pon­nes ein Jahr spä­ter die Mönchs­re­pu­blik Athos oben im Nor­den wer­den soll­te und zur Dor­ner­schen Rea­li­tät trans­fe­rier­te, eines der Klös­ter in die­sem exter­ri­to­ria­lem Bereich, näm­lich Hil­an­dar, sogar zur Hei­mat wur­de, war bereits Bestim­mung. Was man damals alles unter “reli­gio” zu ver­ste­hen vor­gab, war und ist unbe­greif­lich. Wir zogen uns dem­zu­fol­ge zurück und sie­he da, plötz­lich ver­schwan­den die unwahr­schein­lich vie­len Fra­ge­zei­chen und Pro­blem­chen, über wel­che wir noch kurz zuvor ange­reg­test dis­ku­tiert hat­ten. Bis auf ein paar waren es über­schau­bar weni­ge. Und wir fühl­ten uns viel, sogar sehr viel woh­ler.  Ein­tau­send­neun­hun­dert­drei­und­sech­zig beschäf­tig­ten wir uns beruf­lich aller­dings vor­ran­gig noch mit den Pro­ble­men, wel­che erst auf uns zukom­men soll­ten. Da stell­te man uns etwa die Auf­ga­be von der Büh­ne her­ab den Lebens­ab­schnitt eines oder meh­re­rer Bäu­me zu ver­mit­teln. Allei­ne schon die Dar­stel­lung eines Bau­mes, eines Nadel- oder Laub­bau­mes, eines alten oder jun­gen, eines Bau­mes in wel­cher Umge­bung, in wel­chem Umfeld begann uns zu beschäf­ti­gen. Dann begrif­fen wir, dass immer die Gefahr bestand in das Hör-Spiel abzu­sa­cken oder in den kind­li­chen Bereich. Als Baum blieb man ja ver­wur­zelt, orts­ge­bun­den. Als Ein­zel-Baum. Leben Bäu­me im Ein­zel­nen oder mani­fes­tie­ren sie sich als “Wald”? Dann gab es da noch das Pro­blem der feh­len­den Eltern, es gab ja nicht ein­mal einen Eltern­baum! Und schon waren wir mit­ten­drin in phi­lo­so­phi­schen Tie­fen, stan­den aber auf der Büh­ne und dach­ten, dach­ten, dach­ten. Mit­ein­an­der und laut. Lan­ge. Wir beschäf­tig­ten uns auch mit der Aus­spra­che des ein­fa­chen Wor­tes, des Begrif­fes, “Wald”. Wir setz­ten uns zu dritt auf den Trau­fen­weg vor den Fens­tern unse­rer Stu­dio­büh­ne und wie­der­hol­ten im Chor die­sen Begriff, solan­ge bis doch tat­säch­lich vor unse­ren geis­ti­gen Augen die­ser Begriff sich zu einem Wald zu for­mie­ren begann. Für jeden war die­ser Begriff zwar eigen­stän­dig, aber für jeden war er doch etwas anders, für mich jeden­falls eine Mischung zwi­schen Hasel­sträu­chern und Föh­ren, für Harald Per­scha ein rei­ner Nadel­wald, der drit­te im Bun­de, an des­sen Namen ich mich nicht mehr erin­nern kann, ich glau­be, es war Sepp Gartl­gru­ber, rea­li­sier­te einen Wald, der aus lau­ter Eichen bestand. So ver­such­ten wir auf den Ursprung von “Spra­che” und “Spre­chen” zu kom­men. Wir beka­men kei­ner­lei Unter­stüt­zung oder Hil­fe­stel­lung dabei, es blieb uns allein  über­las­sen. So ver­blieb es unser Pro­blem und in wei­te­rer Fol­ge ent­wi­ckel­te es sich zu mei­nem Pro­blem. In all den Jah­ren bis hin zu den 123.000 im alten Gra­zer Lie­ben­au­er Sta­di­on hat­te ich Zeit genug expe­ri­men­tell zu erfah­ren, wes­sen ein Ein­zel­ner fähig ist, zu wider­ste­hen, was ein Ein­zel­ner einem grö­ße­ren Audi­to­ri­um ohne Wor­te mit­tei­len kann. Vor allem: Wel­che Inhal­te – das stand ja im abso­lu­ten Zen­trum des Inter­es­ses. “Span­nung” zu hal­ten war ja noch das Ein­fachs­te, aber bald muss­te ich ent­de­cken, dass Gefüh­le sich auch ohne Wor­te, in län­ge­ren Pau­sen etwa, mit­tei­len lie­ßen, dass Begrif­fe – wie “Wald” vor­hin – sich dem ent­zo­gen. Wes­halb wohl? Hin­ter den Fens­tern auf die­ser Sei­te des Palais Meran, nach einem schma­len Rasen-Grün­strei­fen, gab es ein paar mit­tel­gro­ße Sträu­cher und mit­ten in die­sem undurch­sich­ti­gen Busch­werk ent­deck­ten wir einen Bun­ker aus Zei­ten des Welt­krie­ges. Dort­hin zogen wir uns für unse­re Expe­ri­men­te zurück, hier stör­ten wir auch nie­man­den, denn laut muss­ten wir ja sein, zumin­dest halb­laut. Wann immer ich Zeit fand, hat­te ich Zeit für mei­nen Lieb­lings­ort im Park des Palais Meran.

v.li.n.re: Meinrad Nell, Harald Perscha, Dietmar Pflegerl, Sepp Gartlgruber - Die vier Edelleute in "Ein treuer Diener seines Herrn" von Franz Grillparzer
Die vier Edel­leu­te in Grill­par­zers “Ein treu­er Die­ner sei­nes Herrn”: Mein­rad Nell, Harald Per­scha (spä­ter Chef­spre­cher Stu­dio Stei­er­mark), Diet­mar Pfle­gerl (spä­ter Inten­dant Stadt­thea­ter Kla­gen­furt) und Sepp Gartl­gru­ber (spä­ter frei­schaf­fen­der Künst­ler unter Premd­har­ma S. Gartl­gru­ber) anläß­lich der Eröff­nung des neu­en Gra­zer Schau­spiel­hau­ses – Bild: Egon Lohr

Beson­ders hin­ge­ris­sen war ich von der Bau­ern-Hoch­zeit im heu­ti­gen Slo­we­ni­en zu der Die­ter und ich ein­ge­la­den wor­den waren. Da hat­te man einen kom­plet­ten Vier­kan­ter aus­ge­räumt, Platz gemacht für Hun­der­te von Gäs­ten. Der Hof lag in einer Sen­ke inmit­ten von Hügeln. Rund­um­her Wein­gär­ten. Man konn­te das gan­ze Gebäu­de im Inne­ren umrun­den, von Raum zu Raum wan­dern. Man hat­te Tische und Bän­ke hier­her gebracht und die­se so auf­ge­stellt, dass sich bei­na­he eine ein­zi­ge lan­ge weiß gedeck­te Tafel im Vier­eck ergab. Die­se bei­na­he end­lo­se Tafel bog sich unter den Genüs­sen, ein Lecker­bis­sen jag­te den ande­ren. So viel Essen hat­te ich mein Leben nicht gese­hen, Rind und Schwein und Lamm und Wild in jeder Art und Zube­rei­tung mit den phan­ta­sie­volls­ten Bei­la­gen, bekannt oder unbe­kannt, Kuchen und Mehl­spei­sen und das Gan­ze war im heu­ti­gen Slo­we­ni­en ganz “nor­mal”, so ver­si­cher­te man uns immer wie­der. Das sei ein ganz “nor­ma­les” Hoch­zeits­mahl, aus­ge­rich­tet von den Nach­barn und von der Trau­ungs­ge­mein­de. Jeder hat­te sei­nen Anteil an der Orga­ni­sa­ti­on. Ein unglaub­li­ches Para­dies, in dem sich Bac­chus und Lukul­lus und Dio­ny­sos und alle Fau­ne die­ser Welt gemein­sam zu Hau­se gefühlt hät­ten. In sol­cher Men­ge hat­te ich noch nie kuli­na­ri­sche Köst­lich­kei­ten erlebt und erfah­ren und geschmeckt und genos­sen. Obwohl ich zur Nach­kriegs­zeit “am Land” auf­ge­wach­sen wur­de, hat­te es mir bei die­sem Hoch­zeits-gevöl­le die Spra­che ver­schla­gen. Die­ter genau­so, was sehr sel­ten vor­kam. Am spä­te­ren Nach­mit­tag fiel dann aller­dings Regen, und als wir gegen Abend nach Novi Vrh zurück­woll­ten, dreh­ten die Räder von Die­ters 600er Fiat  im schli­cki­gen Lehm durch, gru­ben immer tie­fer. Es gab kein Wei­ter­kom­men mehr, weil unser treu­er Gefähr­te schon mit den Ach­sen den Schlick zu Schlamm zer­wühl­te. Was eini­gen Ein­hei­mi­schen durch­aus will­kom­men war. Aber schließ­lich fan­den sich ein paar mus­ku­lö­se Ein­sich­ti­ge, wel­che Die­ters 600er erst aus den Schlamm hoben und zogen und dann die Lehm­pis­te hin­auf scho­ben, durch Schlick und Pfüt­zen hin­durch. Das muss­te natür­lich noch kurz gefei­ert wer­den. Novi Vrh erreich­ten wir erst knappp vor Ein­bruch der Dun­kel­heit. Irgend­wo in die­ser Gegend haus­te auch jener Slo­we­ne, der uns mit einem sei­ner Hob­bys sehr bein­druck­te und sehr nach­denk­lich stimm­te. Hin­ter sei­ner “Keu­sche” befand sich ein Schup­pen. Er gestat­te­te uns, einen kur­zen Blick da hin­ein zu wer­fen. Was wir dort erblick­ten, ließ uns zur Salz­säu­le erstar­ren und gleich im Anschluss vor­sich­ti­ge Bli­cke nach allen Rich­tun­gen wer­fen. Da stand doch in gan­zer Grö­ße ein grau­ros­ti­ges Unge­tüm vor uns, dro­hen­der als Alles, was wir aus Fil­men und Bil­dern bereits kann­ten. Urplötz­lich war es Rea­li­tät gewor­den. In einem slo­we­ni­schen Schup­pen irgend­ei­nes ganz ein­fa­chen und unbe­kann­ten klei­nen Bau­ern stand da ein WKII-Pan­zer, still und starr und hielt offen­sicht­lich ein­ge­fro­re­ne, unbe­mann­te Wacht. Wir hat­ten nicht die gerings­te Ahung wel­chen Typs die­ser Pan­zer war, auch die Hoheits­zei­chen waren nicht zu sehen, offen­sicht­lich waren die­se über­malt wor­den oder so. Jeden­falls war der Schup­pen, oder bes­ser die Gara­ge, sehr gepflegt und aller­seits wet­ter­dicht. Der Unter­stand-Geber erklär­te uns auch in gebro­che­nem Deutsch: “Rohr immer nach Süden! Put­Put (damit mein­te er den Motor des Gefährts) ist OK!”. Was er damit sagen woll­te, war uns schon damals klar, immer­hin unse­re Erleb­nis­se in Ptuj fan­den ja kurz zuvor statt und nach­dem der Anschau­ungs­un­ter­richt dort so unver­gess­lich war, mie­den wir die pan­zer­häl­ti­ge Gegend in Zukunft ver­ständ­li­cher­wei­se. Wir ver­si­cher­ten uns nach der flüch­ti­gen und knap­pen Besich­ti­gung auch wirk­lich sehr gewis­sen­haft, ob uns nicht doch jemand gese­hen haben könn­te. Das leich­te Gefühl des Unbe­ha­gens ver­lo­ren wir erst wie­der nach ein paar Tagen unse­res Gra­zer Lebens.

Meinrad Nell als Cliff und Dieter Dorner als Jimmy in "Blick zurück im Zorn" von John James Osborne auf der Studiobühne des Palais Meran der "Akademie für Musik und darstellende Kunst" der nachmaligen Universität in Graz
Mein­rad Nell als Cliff und Die­ter Dor­ner als Jim­my in “Blick zurück im Zorn” von John James Osbor­ne auf der Stu­dio­büh­ne des Palais Meran der “Aka­de­mie für Musik und dar­stel­len­de Kunst” in Graz. Abschluss­ar­beit 1966.

Es waren ein­fach zu vie­le der Wein­stö­cke, der Sträu­cher und Klein­bäu­me, es waren zu vie­le der Mög­lich­kei­ten, wo man etwas vor sei­ner Nach­welt tem­po­rär ver­ber­gen konn­te in Novi Vrh. Wir such­ten auch nicht ernst­lich nach dem “Blau­en Dumpf”  von dem mir Die­ter so neben­bei in Graz erzählt hat­te und von des­sen Begriff ich kei­ner­lei Ahung hat­te. Wir ver­ein­bar­ten, die nächs­te Anwe­sen­heit in Novi Vrh zu benut­zen, um den “Dumpf” zu suchen. Der “Blaue Dumpf” bezog sei­nen Namen von der “blau­en Stun­de”, von jener Tages­zeit, als man sich nach geta­ner Tages­ar­beit auf sei­nen Ruhe­platz vor dem Win­zer­haus zurück­zog, den blau­en Ton­krug im küh­len Kel­ler mit Wein füll­te, sich bedäch­tig und aus­ge­ge­gli­chen auf der Holz­bank nie­der­ließ, sich einen tie­fen Schluck gönn­te, viel­leicht gemein­sam ein Lied anstimm­te, den Blick über die Land­schaft schwei­fen ließ – über sei­ne Wein­gär­ten, über die Mur, bis hin zum Schö­ckl im Nor­den von Graz. So lan­ge, bis das Licht gera­de noch reich­te, um ins Bett zu gehen und sanft in die Nacht zu glei­ten, um am nächs­ten Mor­gen mit den Vögel­chen aus­ge­ruht und vol­ler fri­scher Kraft in einen neu­en Tag zu wach­sen. Elek­tri­sches Licht hats erst irgend­wann nach dem Krieg gege­ben, bis dahin muß­te man sich mit Öl oder Petro­le­um begnü­gen oder mit soge­nann­ten Kien­spä­nen. Von die­sen Spä­nen lei­te­te sich auch einer unse­rer berühm­ten Trai­nings­sät­ze zur Ent­wick­lung der Geläu­fig­keit her, jener Satz mit dem berüch­tig­ten Schlei­ßen­scheit. Das erlern­ten Die­ter und ich gera­de, des­we­gen blieb der “blaue Dumpf” mit den Schei­ten, die geschlis­sen wer­den, und natür­lich mit Novi Vrh in Ewig­keit mit­ein­an­der ver­wo­ben. In den Wochen des blau­en Dump­fes war mir klar gewor­den dass Kom­mu­ni­ka­ti­on aus­schließ­lich mit gespro­che­ner Spra­che zusam­men­hängt, nicht mit Spra­che gemein­hin, son­dern mit Spra­che, wel­che gespro­chen wird, akus­tisch! Es wur­de mir nach lan­gen Dis­kus­sio­nen, nicht nur mit Die­ter, fass­bar, dass jeder Buch­sta­be, jedes Zei­chen, jede Note nur ein Hilfs­mit­tel der Kom­mu­ni­ka­ti­on sein muß­te und es wur­de mir glas­klar, dass es, auch was die gespro­che­ne Spra­che betrifft, vie­le Arten von loka­len Dia­lek­ten gibt, wovon wie­der­um die Art der Kom­mu­ni­ka­ti­on sehr abhän­gig zu sein scheint. Dass es da  noch die Spra­che des Kör­pers gibt, wel­che wir gera­de im Begrif­fe waren die­se zu stu­die­ren und zu erler­nen erleich­ter­te mir das Begrei­fen schon sehr. Es begann sich in mir eine Ahnung fest zu set­zen, die im Schau­spiel das Zen­trum all jener Dis­zi­pli­nen zusam­men zu fas­sen schien, die sich mit Kom­mu­ni­ka­ti­on beschäf­tig­ten. Wie rich­tig das war, ahn­te ich damals über­haupt nicht. Der “Blaue Dumpf” war im Moment äußerst wich­tig, er war ja auch mit allen mög­li­chen und unmög­li­chen Klein­odi­en ver­gra­ben wor­den. Die Fra­ge war nur, wo? Ob er jemals gefun­den wur­de, ent­zieht sich mei­ner Kenntnis.

"Blick zurück im Zorn". Eva Schäffer als Helena (links), Elisabeth Wondrak in der Rolle der Allison (Mitte) und Dieter Dorner als Jimmy (rechts)
Die Stu­dio­büh­ne selbst war damals äußerst impro­vi­siert, bestand nur aus Holz­ver­bau­ten, einem Pan­ora­ma-Vor­hang und dem Haupt-Vor­hang. Mit fes­ter Über­zeu­gung gin­gen wir jeden­falls an die Sache ran: “Blick zurück im Zorn”. Eva Schäf­fer als Hele­na (links), Eli­sa­beth Wond­rak in der Rol­le der Alli­son (Mit­te) und Die­ter Dor­ner als Jim­my (rechts).

Unse­re ers­te gemein­sa­me Fahrt nach Novi Vrh, mei­ne ers­te Fahrt nach Jugo­sla­wi­en sowie­so, Die­ters ers­te selb­stän­di­ge Fahrt mit dem 600er Fiat eben­so führ­te uns bei Sen­tilj über die Gren­ze, kurz danach links der Mur ent­lang und dann gera­de­aus, die Hügel hin­auf. In Die­ters Kopf war die Land­kar­te, ich war hilf­los aus­ge­lie­fert und hat­te kei­ne Ahnung was mich erwar­te­te. Schloss Ober­mu­reck kann­te ich von der öster­rei­chi­schen Sei­te her, vom “Sehen” her sozu­sa­gen. Jetzt fuh­ren wir dran vor­bei, hol­per­ten uns über ver­stau­ben­de Schot­ter­stra­ßen. Es war ein fins­te­res Schloss damals. Unbe­lebt. Nicht sehr sympha­tisch! Am spä­te­ren, sehr spä­ten Nach­mit­tag kamen wir an unse­rem Ziel an. Es war – auf stei­risch beschrie­ben – eine etwas grö­ße­re “Keischn” mit einem Schup­pen. Kaum hat­te Die­ter den Motor des 600ers abge­stellt, wur­den wir auch schon von den Bewoh­nern des Hau­ses will­kom­men gehei­ßen. In einer Spra­che, die uns unbe­kannt war und mit einem Brauch, den wir ganz ein­fach hin­nah­men: ein “Stam­perl” (Gläs­chen) Schnapps und etwas Ähn­li­ches wie Brot – ein klei­nes Stück­chen.  Die­ter hat­te wäh­rend der Fahrt nach Novi Vrh Zeit genug mich über die Bewoh­ner auf­zu­klä­ren. Offen­sicht­lich waren es Roma – damals wur­den sie noch als “Zigeu­ner” bezeich­net – und hat­ten sich wäh­rend der Par­ti­sa­nenzeit hier nie­der­ge­las­sen. Samt Nach­wuchs. Es war eine auf den ers­ten Blick sehr sympha­ti­sche und net­te Fami­lie. Wir radeb­rech­ten und ges­ti­ku­lier­ten und lach­ten und blö­del­ten schnaps­un­ter­legt bis spät in die Nacht hin­ein. Bis zu dem Augen­blick wo wir trotz Umne­belt­s­eins fest­stel­len muss­ten, dass die bei­den Bewoh­ner mit allen Mit­teln ver­such­ten uns ins Bett zu brin­gen – mit ihrer Toch­ter. Es blieb beim Ver­such. Ein wenig Erfah­rung hat­ten wir schon und aus­ser­dem kam uns noch die Theo­rie aus der Lite­ra­tur zu Hil­fe. Ober­halb des Kel­ler­zu­gangs war ein Zim­mer für die Fami­lie Dor­ner reser­viert, dort leg­ten wir uns zur Ruhe. Bis uns die Äug­lein zufie­len, blö­del­ten wir noch vor­ein­an­der hin und mal­ten uns eine Zukunfts-Exis­tenz im wun­der­schö­nen Süd­sla­wi­en aus. Nicht im Ent­fern­tes­ten hät­te ich damals an das Hotel “Koro­tan” (“Kärn­ten”) am Süd­ufer des Wör­ther­sees mit sei­nem exklu­si­ven Umfeld und an die ers­ten Ansät­ze der Ver­drän­gung von Live-Music durch eine soge­nann­te Dis­co­thek von damals und an die soge­nann­te “Che­fin”, an Iovan­ka Tito, an die dal­ma­ti­ni­schen Inseln, die Krka, die aben­teu­er­li­che Ceti­na oder an das orgeln­de Meer bei Zadar gedacht!

"Blick zurück im Zorn". Regie führte damals Rudolf Buczolich. Alles andere wurde von uns selber gestaltet. Meinrad Nell (li) als Cliff und Dieter Dorner (re) als Jimmy
“Blick zurück im Zorn”. Regie führ­te damals Rudolf Buc­zo­lich. Alles ande­re wur­de von uns sel­ber gestal­tet. Mein­rad Nell (li) als Cliff und Die­ter Dor­ner (re) in der Rol­le des Jimmy.

Die Idee, die Büh­ne im Palais Meran, an der gera­de gewer­kelt wur­de, mit John Osbor­nes “Blick zurück im Zorn” zu eröff­nen, wur­de anläss­lich eines Aus­flugs nach Markt All­hau ent­wi­ckelt. Damals war die­ser Markt noch etwas wei­ter von Graz ent­fernt, die Süd-Auto­bahn kam nicht ein­mal in den kühns­ten stei­ri­schen Träu­men vor. Rudolf Buc­zo­lich hat­te sich dort ein­ge­kauft, sich sozu­sa­gen einen alten Bau­ern­hof als “recrea­ti­on area” zuge­legt und muss­te ihn also reno­vie­ren und restau­rie­ren. Und als er hör­te, dass ich mich unter ande­rem in die­ser Gegend ganz gut aus­kann­te, schlug er einen gemein­sa­men Aus­flug nach Markt All­hau vor. Die­ter und ich mach­ten selbst­ver­ständ­lich mit. Buc­zo­lich war nicht nur einer unse­rer Pro­fes­so­ren an der Kunst-Aka­de­mie, er war auch einer der bekann­tes­ten Schau­spie­ler in Graz. In unzäh­li­gen Rol­len erfreu­te er das Publi­kum. Beson­ders ein­drucks­voll war die Leis­tung Rudolfs in der Rol­le des Wurm in Schil­lers “Kaba­le und Lie­be”. Das war noch in den Kam­mer­spie­len, dem Aus­weich­quar­tier des Schau­spiels im ers­ten Stock des Land­haus­ho­fes in Graz. Nicht zu ver­ges­sen war da auch die Mit­wir­kung an dem Stra­ßen­fe­ger der Sen­der­grup­pe Alpen­land, dem Kri­mi­nal-Hör­spiel­rät­sel “Wer ist der Täter?”  von Erwin Gau­der­nak, in dem Buc­zo­lich den Assis­ten­ten von Kri­mi­nal-Kom­mis­sar Leit­ner ali­as Hans Dolf gab. Alle 14 Tage wur­den die Stra­ßen ab 20 Uhr vom Radio leer­ge­fegt. Ab dem Augen­blick, in dem wir die Kunst-Aka­de­mie besuch­ten, gehör­ten wir zu den Fege-Meis­tern der alpen­län­di­schen Stra­ßen. In den wich­ti­gen Rol­len der “Die Pfer­de sind gesattelt!”-Darsteller. Ich erin­ne­re mich noch an den ers­ten Satz den ich da spre­chen durf­te: “Hal­lo? Hier Hotel Sacher! Por­tier. Sie wün­schen bit­te?”. Natür­lich wur­den spä­ter dann mehr Sät­ze draus, gan­ze Sen­dun­gen, vor allem im wis­sen­schaft­li­chen Bereich. Anschei­nend hat­te ich mich hör­funk­mä­ßig bewährt. Die­ter saß ein paar Räu­me zu die­ser Zeit unter mir und stopp­te die Vor­lauf­zei­ten von Schall­plat­ten. Das waren und sind jene Sekun­den von Beginn der Auf­zeich­nung bis zum Beginn des Gesangs. Für Mode­ra­to­ren von diver­sen Sen­dun­gen war dies eine sehr wich­ti­ge Infor­ma­ti­on. Da saßen wir also am Tisch vor dem Bau­ern­haus in Markt All­hau und jaus­ne­ten und tran­ken und lie­ßen die Ideen zur Eröff­nung der klei­nen Büh­ne im Palais Meran sprü­hen. So neben­bei kam von Herrn Pro­fes­sor Buc­zo­lich auch der “Blick zurück”-Vorschlag. Zurück in Graz dach­ten wir ein oder zwei Wochen nach, lasen so eini­ges, dach­ten wie­der nach und fass­ten dann den “Blick zurück”-Entschluss und rede­ten gleich mit Eva Schäf­fer und Eli­sa­beth Wond­rak und Erhard Koren. Alle waren ein­ver­stan­den und wir spra­chen kurz mit Rudolf Buc­zo­lich, der sogleich die Regie über­nahm. So ent­stand die aller­ers­te Initia­ti­ve der Kunst-Akademie.

Erhard Koren vor dem Entwurf eines Bühnenbilds zu "Was ihr wollt" von Skakespeare. Eines der wenigen überlieferten Bilddokumente aus der Gründerzeit der Universität für Musik und darstellende Kunst in Graz.
Erhard Koren vor dem Ent­wurf eines Büh­nen­bilds zu “Was ihr wollt” von Ska­ke­speare. Eines der weni­gen über­lie­fer­ten Bild­do­ku­men­te aus der Grün­der­zeit der Uni­ver­si­tät für Musik und dar­stel­len­de Kunst in Graz. Erhard war auch der Dar­stel­ler des Vaters von Ali­son, Colo­nel Red­fern, in der Insze­nie­rung “Blick zurück im Zorn”.

Der Gries-Platz war des Abends in Graz einer der ver­ru­fens­ten Plät­ze. An sei­ner nörd­li­chen Ecke waren ein paar Verkaufs-“Stände”  ange­sie­delt. Sobald es fins­ter wur­de, getrau­ten sich nur zwie­lich­ti­ge Figu­ren in die­sen dunk­len Bereich. Der Raum für die Fuß­gän­ger war von der Brü­cken­kopf­gas­se bis hin­un­ter zum Gries­platz mit einem Schutz­git­ter abge­si­chert. In die­sem Bereich rat­ter­te damals noch eine Stra­ßen­bahn gefähr­lich nah an den Fuß­mo­bi­len vor­bei und das waren damals jede Men­ge Men­schen und Hun­de – na gut, heu­te wird es schön lang­sam wie­der, die geist­lo­sen Zei­ten sind ja so ziem­lich zu Ende. Das Schutz­git­ter trenn­te sicher­heits­hal­ber Fuß­mo­bi­le und Stra­ßen­bahn. Damals erlern­ten wir gera­de das “Span­nung-Hal­ten”. Sowohl theo­re­tisch, als auch prak­tisch, denn dabei gab es jede Men­ge zu erfah­ren. Immer wie­der wur­den wir dar­auf hin­ge­wie­sen, dass dies auch im pri­va­ten Bereich funk­tio­nie­ren sol­le. Ein aus­er­wähl­ter Kreis von Ele­ven woll­te das natür­lich ganz genau wis­sen und erwähl­te den Gries­platz zur Expe­ri­men­tal­zo­ne. In der Brü­cken­kopf­gas­se, an der Ein­mün­dung zum Gries­platz hol­ten wir tief Luft, “stütz­ten” so wie wir es gelernt hat­ten mit Zwerch­fell und ohne Mus­kel, schwan­gen uns über das Schutz­git­ter – zur Unter­strei­chung der action schlu­gen wir dabei noch locker die som­mer­li­chen Bade­tü­cher um die Schul­tern oder Ach­seln – und schrit­ten ziel­ge­rich­tet und ganz bewußt quer­platz­e­in und ker­zen­ge­ra­de auf die “Standln” und die davor befind­li­chen düs­te­ren Men­schen­grup­pen zu. Immer unter “Span­nung”. Zuge­ge­ben, es war eine Art Mut­pro­be, aber es funk­tio­nier­te per­fekt und zu unse­rer vol­len Zufrie­den­heit. Die Grup­pen lös­ten sich auf, die Men­schen ver­krü­mel­ten sich. Das wie­der­hol­ten wir immer wie­der, solan­ge bis wir eines Abends aus den dunk­len Ecken des Plat­zes lau­te Stim­men hör­ten und dann einen dump­fen Knall, dem Stil­le folg­te. Da wur­de uns dann doch irgend­wie “anders”, lie­ßen “Stüt­ze” Stüt­ze sein und “Span­nung” Span­nung und ver­krü­mel­ten uns sel­ber still, heim­lich und lei­se. Die­ser Gegend blie­ben wir län­ge­re Zeit hin­durch fern.

Obwohl Novi Vrh zu Jugo­sla­wi­en gehör­te waren die Fahr­ten dort­hin für Die­ter und mich kur­ze Aus­flü­ge zu gut Bekann­ten in unmit­tel­ba­rer Nach­bar­schaft. Dass man dort neben Deutsch auch Slo­we­nisch sprach und eigent­lich Ser­bo-Kroa­tisch spre­chen soll­te, fiel uns gar nicht auf. Das war doch selbst­ver­ständ­lich. Genau­so selbst­ver­ständ­lich war, dass Peter Hand­ke im Kel­ler des Forum Stadt­park an sei­nem slo­we­ni­schen Roman umher­schrif­tel­te. Slo­we­nisch oder “win­disch” einer­lei. Hier wie dort waren Men­schen am Wer­ken, Men­schen die ein­an­der ähnel­ten, ob sie in Novi Vrh werk­ten, ob in Bad Mit­tern­dorf, in Wei­ßen­bach oder in Graz. Wir mach­ten uns auch gar kei­ne Gedan­ken über mög­li­che Zeit­not bei unse­rer Rück­kehr. Früh genug, näm­lich noch wäh­rend unse­rer Aka­de­mie-Lehr­jah­re, muß­ten wir Ver­ant­wor­tung und damit auch den Sinn von Büh­nen-Orga­ni­sa­ti­on leib­haf­tig erfah­ren, blei­bend für ein gan­zes – nicht nur – Büh­nen-Leben. Wir muss­ten erst begrei­fen, dass wir zwar für das Publi­kum im Zen­trum des Gesche­hens stan­den, aber für das Gesche­hen am Thea­ter selbst nur eines von vie­len, vie­len Räd­chen dar­stell­ten. Die­ter und ich waren tags­über in Novi Vrh. Des Abends muss­te ich im Gra­zer Schau­spiel­haus sein. Der “treue Die­ner sei­nes Herrn” von Grill­par­zer war­te­te auf mich. Wie immer fuh­ren wir recht­zei­tig von Novi Vrh weg.  Wir erreich­ten die höl­zer­ne Mur­brü­cke von Bad Rad­kers­burg. Da aller­dings war der Grenz­bal­ken geschlos­sen. Davor stand die Miliz. Da half kein Reden, kein Lächeln, wir muß­ten lang­sam aus­stei­gen und in das Wach­lo­kal. Bein­hart nahm man uns und den 600er Fiat draus­sen aus­ein­an­der. Der Minu­ten­zei­ger mei­ner Arm­band­uhr begann Flü­gel zu bekom­men. Ich nahm mich zusam­men und hoff­te, dass nie­mand bemerk­te, dass ich unru­hig wur­de, dass ich mir ins­ge­heim die noch zu ver­blei­ben­de Zeit ausrechnete,die ich noch hat­te bis zum Beginn der Vor­stel­lung. Der Grenz­bal­ken ging hoch, wir hol­per­ten über die Brü­cke. Ich bekam den öster­rei­chi­schen Bal­ken noch mit, die leicht miss­traui­schen Bli­cke unse­rer Beam­ten, bekam das Rasen Rich­tung Graz mit, ich wuss­te, dass jetzt der “Gar­de­r­ober” dem Inspi­zi­en­ten Mel­dung machen muss­te. Mein Herz schlug bis zum Hals in höchs­ter Fre­quenz. Wir hetz­ten durch Graz, die Bür­ger­gas­se hin­auf. Die­ter fuhr bis zum Büh­nen­ein­gang, ich rann­te die paar Trep­pen­stu­fen hin­auf, gleich zum Inspi­zi­en­ten, emp­fing da den dro­hen­den Fin­ger, Kopf­schüt­teln und den bösen Blick, eil­te wie­der vom Inspi­zi­en­ten­pult im lin­ken Büh­nen­be­reich hin­aus zum glück­li­cher­wei­se bereit­ste­hen­den Lift, fuhr in den ers­ten Stock. Mei­ne drei Mit­spie­ler stan­den schon da, kos­tü­miert und in vol­ler Mas­ke, ich warf mich ins Kos­tüm hilf­reich assis­tiert von unse­rem Gar­de­r­ober, stürm­te hin­un­ter in die “Mas­ke” zu Kur­ti, unse­rem Thea­ter-Fri­seur, der im Übri­gen einer mei­ner Jugend­freun­de war – und end­lich hat­te ich Zeit, Atem zu holen, mich etwas zu ent­span­nen. In den nächs­ten Minu­ten wur­de mir klar, war­um uns unse­re Pro­fes­so­ren immer wie­der davor warn­ten, vor dem Unvor­her­ge­se­he­nem, kurz vor Beginn einer Vor­stel­lung. Was wuss­ten wir schon, wonach die jugo­sla­wi­sche Miliz such­te? Hat­te das über­haupt mit uns pers­ö­lich zu tun? Waren wir nur zum ungüns­tigs­ten Zeit­punkt am fal­schen Ort? Die Mili­zio­nä­re kann­ten auch sicher nicht den Inspi­zi­en­ten die­ses Abends im Gra­zer Schau­spiel­haus! Wahr­schein­lich wuss­ten sie nicht ein­mal, was das über­haupt ist, ein Inspi­zi­ent! Aber letzt­lich hat die­ser Inspi­zi­ent – an des­sen Namen ich mich lei­der nicht mehr erin­ne­re – die vol­le Ver­ant­wor­tung für die­sen Abend getra­gen, vor allem ertragen.

In jun­gen Jah­ren schon hat sich Die­ter dem Berg Athos mit sei­ner Mönchs­re­pu­blik zuge­wandt, sehr früh ließ er sich dort auch grie­chisch-ortho­dox tau­fen. Er leb­te sei­nem Glau­ben. Je län­ger, des­to inten­si­ver.  Es begann schon damit, dass wir bei­de gebrauch­te deutsch­spra­chi­ge Bibeln ins Tito-Jugo­sla­wi­en schmug­gel­ten. Unser bei­der Leben ist mit­ein­an­der ver­wo­ben und so wer­den wir Die­ter auf die­sen Sei­ten immer wie­der begeg­nen. Men­schen die sich ernst­lich mit wahr­haf­ti­ger Kom­mu­ni­ka­ti­on  abge­ben wis­sen schon, was dahin­ter steckt.

Cliff und Jimmy in übertriebener Ausgelassenheit. Meinrad Nell und Dieter Dorner auf der allerersten improvisierten Bühne des Palais Meran. Damals war die Kunst-Universität noch ganz einfache "Akademie".
Cliff und Jim­my in über­trie­be­ner Aus­ge­las­sen­heit. Mein­rad Nell und Die­ter Dor­ner auf der aller­ers­ten impro­vi­sier­ten Büh­ne des Palais Meran. Damals war die Kunst-Uni­ver­si­tät noch ganz ein­fa­che “Aka­de­mie”.

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