
Es war ein wunderschöner Sommertag. Noch war alles ruhig. Es musste also so um sechs Uhr morgens gewesen sein, als mich Eva und Dieter von Zuhause abholten. Eva Schäffer saß am Steuer ihrer Renault Dauphine. Treffender wäre die Bezeichnung “Steuer-Rad” wegen der allseits gerundeten Formen der Karosserie, wofür diese auch den Begriff Ponton-Karosserie verpasst bekam. Der Heckmotor surrte beruhigend im Rücken der Passagiere, dafür befand sich der Gepäckraum dort, wo sich normalerweise der Motor befand. Eva hatte den Führerschein erst vor ein paar Tagen bekommen. Wir hatten mit unserer Kollegin vereinbart, dass wir ihre erste große Ausfahrt gemeinsam absolvieren würden. Und zwar hinunter nach Jugoslawien, denn da würde Eva am besten und ehesten Praxis beim Autofahren erfahren können. Dabei dachten wir an die Straßenzustände in diesem Nachbarland. Dieter und ich hatten schon ein wenig Erfahrung sammeln können im Zuge unserer oftmaligen Besuche in Dieters Weingarten in Novi Vrh, in der Gegend des ehemaligen Ober-Mureck auf jugoslawischem Staatsgebiet. Ich breitete mich also auf der hinteren Sitzbank aus und machte es mir gemütlich. Wir starteten. Zunächst in Richtung Grenzübergang Spielfeld/Sentilj. Obwohl wir auf der gefürchteten und damals schon heiß-diskutierten “Gastarbeiter-Route” unterwegs waren, war der Verkehr ruhig und gemütlich. Er hatte sich diesem schönen Sommer-Sonntag angepasst. Zunächst tasteten wir uns durch die Landeshauptstadt hindurch auf die rechte Seite der Mur, durch Strassgang, dann fuhren wir durch Wildon, wo einst die “wilden Herren” hausten und die Ostgrenze des damaligen Siedlungsraumes bis hinüber nach Kirchschlag mit einer Vielzahl von Burgen befestigten und verteidigten. Wir huschten dann an dem bekannten aber bereits verfallenen Flavia Solva vorbei. Einige Kilometer vor der Grenze musste Eva dann rechts ran fahren, denn über die Grenze selbst steuerte Dieter. Als Österreicher der in Jugoslawien einen Weingarten, also ein Grundstück besitzen durfte, nahm er am “kleinen Grenzverkehr” zwischen den beiden Staaten teil. Eva und ich hatten zwar unsere Reisepässe bei uns, aber die wollte gar niemand sehen, weder irgendjemand auf der österreichischen noch auf der jugoslawischen Seite. Man winkte uns fröhlich lachend durch, kaum hatte Dieter seinen Grenzverkehrs-Ausweis hinaus gehalten. Knapp hinter Sentilj wechselten wir wieder das Steuer-Rad und surrten unter der Leitung von Kollegin Eva Schäffer durch ein unbekanntes Jugoslawien Richtung Maribor und Ptuj. Die Richtung kannten wir, die Gegend noch nicht. Das heißt, die Landschaft schon. Sie war nämlich der unseren schon verdammt ähnlich. Maribor schien Klein-Graz zu sein, auch hier floss ein Fluss durch das Städtchen, noch dazu einer der aus Österreich kam, die Drava, die Drau. Eva schlug sich wacker am Steuer-Rad ihrer Dauphine. Bisher fuhren wir auf bereits asphaltierten Straßen mit ganz wenig Verkehr. Im Mittelpunkt unserer Gespräche stand natürlich das Auto allgemein und das Fahren mit dieser Mixtur aus Karosserie und Sitzgelegenheit, aus Wetterschutz und mobilem Motor. Das richtige “Schalten” und Kuppeln war Dauerthema auf dieser Fahrt, das Bremsen nicht so sehr, das wurde eher nebenher behandelt. Und hin und wieder durfte ich einige Male etwas aus dem Hintergrund einwerfen, wenn mir in unserer vorbei ziehenden Landschaft da draußen irgendwas bemerkenswert Auffälliges aufgefallen war. Natürlich blödelten wir auch ausgiebigst umher. In der Ferne konnten wir bereits das Schloss von Ptuj sehen. Auf einem etwas höher gelegenen Hügel, weit und breit der höchste in der ganzen Gegend. Wahrscheinlich bezeichnete man diesen hier als Berg. “Berg” hiess “vrh”, gesprochen wie “wrch”. Wobei das “ch” so ausgesprochen wurde – und noch immer wird – wie das “ch” im deutschen Wörtchen “ich”. Auf dieses Wissen waren wir ganz stolz. Wer unter uns Jugendlichen kannte und konnte schon slowenisch! Auf diesen “Vrh” hielten wir also zu. Mittlerweile war es bereits Mittag geworden und unsere Mägen begannen leicht zu krachen. Wo eine Burg ist, gibt es auch eine Taverne, sagten wir uns und fuhren unverzagt durch die Vororte von Ptuj. Die Straße wurde steil und staubig, weil noch nicht asphaltiert. Aber das störte nicht. Es ging bergauf, dem Essen näher! Und tatsächlich! Da gab es sogar einen kleinen improvisierten und deswegen auch beinahe übervollen Parkplatz und eine Treppe, an die ich mich erinnere. Wir klommen die ausgetretenen Stufen aus purem Stein empor, betraten einen überfüllten Saal, eroberten drei Sitzplätze und wurden auch gleich in der damals gültigen Einheitssprache, auf serbokroatisch, irgendetwas, was wir überhaupt nicht verstanden, gefragt. Jedenfalls versuchten wir uns auf englisch und auf deutsch zu verständigen und waren ganz schockiert, als wir von dem Herrn Ober in deutscher Sprache die Speise- und Getränkekarte vorgebetet bekamen. Offensichtlich war der Herr Ober tourismusgewohnt. Dennoch waren wir geschockt, hatten wir uns das doch gar nicht erwartet. Mitten in Jugoslawien, in Ptuj! Dass Ptuj einmal unter dem Geschlecht der Herbersteins stand und vor grauen Jahren Teil der Untersteiermark war, wussten wir damals noch nicht. Aber viel mehr beeindruckten uns jene Herren, die da plötzlich durch eine Tür hereinkamen, welche offensichtlich von irgendwelchen oberen Gemächern herunterführte. Sie traten in voller Uniform, also in voller Montur, mit Orden und Spangen auf. An den Krägen und Schultern blitzte es, sodass ihre Begleiterinnen fast in der Bedeutungslosigkeit versanken. Sie waren durchwegs blondgefärbt, beinahe weiß, und hatten blutrote Lippen und hochgeschnallte Brüste mit ahnungsvollen üppigen Dekolletes und darunter einengende Korsetts. Es verschlug uns eigentlich alles, bis wir bemerkten, dass es ringsumher ziemlich still geworden war. Wir blickten uns ruhig und wissend an, gewannen nach einer Fassungs-Minute wieder die Übersicht und unterhielten uns über unsere Fahrt, so als ob dies für uns oberste Priorität hätte. Ungerührt und unberührt von irgendwelchen Vorkomnissen unterhielten wir uns über unseren Reiseverlauf. Etwas lauter als üblich. Der Herr Ober komplimentierte die Herren und auch deren Begleitung in einen vorbereiteten Extra-Raum, sodass es rund um uns wieder lauter werden konnte, etwas lauter als vorher – so schien es uns. Erst nach unserem ausgiebigen Dinner, als wir wiederum in “unserer” Dauphine saßen und wussten, dass niemand mehr mithören konnte, brach alles, was dieses Ereignis in uns freigesetzt hatte, aus uns heraus. Wer in diesem Land etwas zu sagen hatte, wurde uns klar und eindeutig vor Augen geführt: Es waren Männer in Uniform. Es waren Männer, die sich allem und jedem und jeder bedienten. Widerspruchslos. Es wurde uns vor Augen geführt, wie man diese vielen Völker und Kulturen in diesem Land zügelt. Wir haben, als Österreicher, durchaus profitiert davon, in den Jahren des Kalten Krieges. Vor allem vom Zwist zwischen Stalin und Tito, von Tito´s Idee von der “dritten Front”, den halbwegs neutralen Staaten zwischen Ost und West. Und wenn jemand glaubte trotzdem widersprechen zu können, dann sollte es ihm so ergehen, wie jenem Mann, den Dieter und ich am jugoslawischen Ufer der Mur, an der Mur selbst, zwischen zwei Soldaten am Boden liegend erleben durften. Ganz bewußt miterlebt hatte ich damals eigentlich nur die Gewehrkolben, welche abwechselnd auf den am Boden Liegenden hinunterzischten, den Mann zusammenschlugen. Die Grenzsoldaten hinter diesen brutalen, hölzernen Kolben nahm ich gar nicht wahr, ich sah nur das Auf und Ab der Kolben. Jedesmal wenn sie auf den Menschen prallten, bäumte sich der Körper auf. Offensichtlich verschwand das Leben schon aus ihm. Dieter gab seinem 600er Fiat mit Grazer Kfz.-Kennzeichen instinktiv Gas, und wir machten uns davon in einer Staubwolke mit hilferufenden Vierzylinder-Kolben. Wir selber waren still und stumm. Solange bis wir in Novi Vrh angekommen waren und ausgezittert hatten.

Die Fahrt zurück von Ptuj nach Graz war eine sehr romantische Reise. Durch die Hügellandschaft der ehemaligen Untersteiermark, wo nach jedem Hügel die Welt anders aussah, über Feldwege, Schotterstraßen und Bächlein hinweg. Kollegin Eva Schäffer hatte das Diplom in der Führung ihrer Renault Dauphine redlich verdient. Am späteren Nachmittag kamen wir dann in Radgona an, dem jugoslawischen Teil Radkersburgs an der Mur, vorbei am mächtigen Schloss von Ober-Radkersburg. Was Jugo-Slawien bedeutete, wußten wir bereits, auch darauf waren wir ganz stolz: Süd-Slowenien hieß unser Nachbarstaat auf österreichisch! Es hätte damals also auch ein Nord-Slowenien geben müssen, aber anstelle dessen gab es historisch bedingt und verbrieft bereits ein kleines Ländchen namens Österreich. Dieses Ländchen war uns also am anderen Ufer zum Greifen nahe. Das Grenz-Städtchen Radkersburg. Uns trennte nur eine enge, hölzerne Brücke. Die jugoslawischen Grenzsoldaten beäugten uns und unsere Reisepässe inklusive Dieters Grenzübergangsausweis zwar sehr mißtrauisch und schienen Geschriebenes etwas länger zu studieren, aber schließlich holperten wir doch wohlbehalten in die vertraute Atmosphäre unseres Zolls und unserer Gendarmerie. Erleichtert fuhren wir am hochgestellten Grenzbalken vorbei. Durch die Ost-Steiermark zurück nach Graz zu fahren war damals wegen der fehlenden Infrastruktur noch nicht empfehlenswert, also gondelten wir der Mur entlang nach Leibnitz und von dort über Wildon wieder nach Hause. Es war wirklich ein wunderschöner Tag. Ein Tag, der im Fahrplan unseres Lebens nicht fehlen darf, zumindest nicht in meinem Fahrplan.

Kennengelernt hatten wir einander anlässlich der Aufnahmsprüfung an der Akademie in der ehemaligen Badeanstalt in der Lichtenfelsgasse. Von dort war es nicht weit zu seinem damaligen Arbeitsplatz an der Technischen Universität. Man ging ganz einfach nur die Lessingstraße hinunter und schon war man bei der “TU”, wie man in Graz sagte. Im Hauptgebäude gab es dort eine Art Fotolabor, wo in weiterer Folge der fotografische Teil unserer Bühnenbilder entstehen durfte. Die Bilder an der fiktiven Wand unserer Abschlussarbeit “Blick zurück im Zorn” John Osborne´s etwa. Aufgrund meiner Kenntnisse im bildgebenden Bereich assistierte ich bald dabei. Wir trafen einander aber auch wenn wir Fragen hatten oder irgendein Problem, das nicht unbedingt mit unserem zukünftigen Beruf zu tun hatte. Aufenthalte in anderen Ländern spielten da eine nicht unwesentliche Rolle. So erfuhr ich zum ersten Mal von Dieters Griechenland-Traum. Und beinahe wären wir im darauf folgenden Sommer mit dem 600er Fiat gemeinsam auf Kithira gelandet. Dass aus dieser Insel südlich des Peloponnes ein Jahr später die Mönchsrepublik Athos oben im Norden werden sollte und zur Dornerschen Realität transferierte, eines der Klöster in diesem exterritorialem Bereich, nämlich Hilandar, sogar zur Heimat wurde, war bereits Bestimmung. Was man damals alles unter “religio” zu verstehen vorgab, war und ist unbegreiflich. Wir zogen uns demzufolge zurück und siehe da, plötzlich verschwanden die unwahrscheinlich vielen Fragezeichen und Problemchen, über welche wir noch kurz zuvor angeregtest diskutiert hatten. Bis auf ein paar waren es überschaubar wenige. Und wir fühlten uns viel, sogar sehr viel wohler. Eintausendneunhundertdreiundsechzig beschäftigten wir uns beruflich allerdings vorrangig noch mit den Problemen, welche erst auf uns zukommen sollten. Da stellte man uns etwa die Aufgabe von der Bühne herab den Lebensabschnitt eines oder mehrerer Bäume zu vermitteln. Alleine schon die Darstellung eines Baumes, eines Nadel- oder Laubbaumes, eines alten oder jungen, eines Baumes in welcher Umgebung, in welchem Umfeld begann uns zu beschäftigen. Dann begriffen wir, dass immer die Gefahr bestand in das Hör-Spiel abzusacken oder in den kindlichen Bereich. Als Baum blieb man ja verwurzelt, ortsgebunden. Als Einzel-Baum. Leben Bäume im Einzelnen oder manifestieren sie sich als “Wald”? Dann gab es da noch das Problem der fehlenden Eltern, es gab ja nicht einmal einen Elternbaum! Und schon waren wir mittendrin in philosophischen Tiefen, standen aber auf der Bühne und dachten, dachten, dachten. Miteinander und laut. Lange. Wir beschäftigten uns auch mit der Aussprache des einfachen Wortes, des Begriffes, “Wald”. Wir setzten uns zu dritt auf den Traufenweg vor den Fenstern unserer Studiobühne und wiederholten im Chor diesen Begriff, solange bis doch tatsächlich vor unseren geistigen Augen dieser Begriff sich zu einem Wald zu formieren begann. Für jeden war dieser Begriff zwar eigenständig, aber für jeden war er doch etwas anders, für mich jedenfalls eine Mischung zwischen Haselsträuchern und Föhren, für Harald Perscha ein reiner Nadelwald, der dritte im Bunde, an dessen Namen ich mich nicht mehr erinnern kann, ich glaube, es war Sepp Gartlgruber, realisierte einen Wald, der aus lauter Eichen bestand. So versuchten wir auf den Ursprung von “Sprache” und “Sprechen” zu kommen. Wir bekamen keinerlei Unterstützung oder Hilfestellung dabei, es blieb uns allein überlassen. So verblieb es unser Problem und in weiterer Folge entwickelte es sich zu meinem Problem. In all den Jahren bis hin zu den 123.000 im alten Grazer Liebenauer Stadion hatte ich Zeit genug experimentell zu erfahren, wessen ein Einzelner fähig ist, zu widerstehen, was ein Einzelner einem größeren Auditorium ohne Worte mitteilen kann. Vor allem: Welche Inhalte – das stand ja im absoluten Zentrum des Interesses. “Spannung” zu halten war ja noch das Einfachste, aber bald musste ich entdecken, dass Gefühle sich auch ohne Worte, in längeren Pausen etwa, mitteilen ließen, dass Begriffe – wie “Wald” vorhin – sich dem entzogen. Weshalb wohl? Hinter den Fenstern auf dieser Seite des Palais Meran, nach einem schmalen Rasen-Grünstreifen, gab es ein paar mittelgroße Sträucher und mitten in diesem undurchsichtigen Buschwerk entdeckten wir einen Bunker aus Zeiten des Weltkrieges. Dorthin zogen wir uns für unsere Experimente zurück, hier störten wir auch niemanden, denn laut mussten wir ja sein, zumindest halblaut. Wann immer ich Zeit fand, hatte ich Zeit für meinen Lieblingsort im Park des Palais Meran.

Besonders hingerissen war ich von der Bauern-Hochzeit im heutigen Slowenien zu der Dieter und ich eingeladen worden waren. Da hatte man einen kompletten Vierkanter ausgeräumt, Platz gemacht für Hunderte von Gästen. Der Hof lag in einer Senke inmitten von Hügeln. Rundumher Weingärten. Man konnte das ganze Gebäude im Inneren umrunden, von Raum zu Raum wandern. Man hatte Tische und Bänke hierher gebracht und diese so aufgestellt, dass sich beinahe eine einzige lange weiß gedeckte Tafel im Viereck ergab. Diese beinahe endlose Tafel bog sich unter den Genüssen, ein Leckerbissen jagte den anderen. So viel Essen hatte ich mein Leben nicht gesehen, Rind und Schwein und Lamm und Wild in jeder Art und Zubereitung mit den phantasievollsten Beilagen, bekannt oder unbekannt, Kuchen und Mehlspeisen und das Ganze war im heutigen Slowenien ganz “normal”, so versicherte man uns immer wieder. Das sei ein ganz “normales” Hochzeitsmahl, ausgerichtet von den Nachbarn und von der Trauungsgemeinde. Jeder hatte seinen Anteil an der Organisation. Ein unglaubliches Paradies, in dem sich Bacchus und Lukullus und Dionysos und alle Faune dieser Welt gemeinsam zu Hause gefühlt hätten. In solcher Menge hatte ich noch nie kulinarische Köstlichkeiten erlebt und erfahren und geschmeckt und genossen. Obwohl ich zur Nachkriegszeit “am Land” aufgewachsen wurde, hatte es mir bei diesem Hochzeits-gevölle die Sprache verschlagen. Dieter genauso, was sehr selten vorkam. Am späteren Nachmittag fiel dann allerdings Regen, und als wir gegen Abend nach Novi Vrh zurückwollten, drehten die Räder von Dieters 600er Fiat im schlickigen Lehm durch, gruben immer tiefer. Es gab kein Weiterkommen mehr, weil unser treuer Gefährte schon mit den Achsen den Schlick zu Schlamm zerwühlte. Was einigen Einheimischen durchaus willkommen war. Aber schließlich fanden sich ein paar muskulöse Einsichtige, welche Dieters 600er erst aus den Schlamm hoben und zogen und dann die Lehmpiste hinauf schoben, durch Schlick und Pfützen hindurch. Das musste natürlich noch kurz gefeiert werden. Novi Vrh erreichten wir erst knappp vor Einbruch der Dunkelheit. Irgendwo in dieser Gegend hauste auch jener Slowene, der uns mit einem seiner Hobbys sehr beindruckte und sehr nachdenklich stimmte. Hinter seiner “Keusche” befand sich ein Schuppen. Er gestattete uns, einen kurzen Blick da hinein zu werfen. Was wir dort erblickten, ließ uns zur Salzsäule erstarren und gleich im Anschluss vorsichtige Blicke nach allen Richtungen werfen. Da stand doch in ganzer Größe ein graurostiges Ungetüm vor uns, drohender als Alles, was wir aus Filmen und Bildern bereits kannten. Urplötzlich war es Realität geworden. In einem slowenischen Schuppen irgendeines ganz einfachen und unbekannten kleinen Bauern stand da ein WKII-Panzer, still und starr und hielt offensichtlich eingefrorene, unbemannte Wacht. Wir hatten nicht die geringste Ahung welchen Typs dieser Panzer war, auch die Hoheitszeichen waren nicht zu sehen, offensichtlich waren diese übermalt worden oder so. Jedenfalls war der Schuppen, oder besser die Garage, sehr gepflegt und allerseits wetterdicht. Der Unterstand-Geber erklärte uns auch in gebrochenem Deutsch: “Rohr immer nach Süden! PutPut (damit meinte er den Motor des Gefährts) ist OK!”. Was er damit sagen wollte, war uns schon damals klar, immerhin unsere Erlebnisse in Ptuj fanden ja kurz zuvor statt und nachdem der Anschauungsunterricht dort so unvergesslich war, mieden wir die panzerhältige Gegend in Zukunft verständlicherweise. Wir versicherten uns nach der flüchtigen und knappen Besichtigung auch wirklich sehr gewissenhaft, ob uns nicht doch jemand gesehen haben könnte. Das leichte Gefühl des Unbehagens verloren wir erst wieder nach ein paar Tagen unseres Grazer Lebens.

Es waren einfach zu viele der Weinstöcke, der Sträucher und Kleinbäume, es waren zu viele der Möglichkeiten, wo man etwas vor seiner Nachwelt temporär verbergen konnte in Novi Vrh. Wir suchten auch nicht ernstlich nach dem “Blauen Dumpf” von dem mir Dieter so nebenbei in Graz erzählt hatte und von dessen Begriff ich keinerlei Ahung hatte. Wir vereinbarten, die nächste Anwesenheit in Novi Vrh zu benutzen, um den “Dumpf” zu suchen. Der “Blaue Dumpf” bezog seinen Namen von der “blauen Stunde”, von jener Tageszeit, als man sich nach getaner Tagesarbeit auf seinen Ruheplatz vor dem Winzerhaus zurückzog, den blauen Tonkrug im kühlen Keller mit Wein füllte, sich bedächtig und ausgegeglichen auf der Holzbank niederließ, sich einen tiefen Schluck gönnte, vielleicht gemeinsam ein Lied anstimmte, den Blick über die Landschaft schweifen ließ – über seine Weingärten, über die Mur, bis hin zum Schöckl im Norden von Graz. So lange, bis das Licht gerade noch reichte, um ins Bett zu gehen und sanft in die Nacht zu gleiten, um am nächsten Morgen mit den Vögelchen ausgeruht und voller frischer Kraft in einen neuen Tag zu wachsen. Elektrisches Licht hats erst irgendwann nach dem Krieg gegeben, bis dahin mußte man sich mit Öl oder Petroleum begnügen oder mit sogenannten Kienspänen. Von diesen Spänen leitete sich auch einer unserer berühmten Trainingssätze zur Entwicklung der Geläufigkeit her, jener Satz mit dem berüchtigten Schleißenscheit. Das erlernten Dieter und ich gerade, deswegen blieb der “blaue Dumpf” mit den Scheiten, die geschlissen werden, und natürlich mit Novi Vrh in Ewigkeit miteinander verwoben. In den Wochen des blauen Dumpfes war mir klar geworden dass Kommunikation ausschließlich mit gesprochener Sprache zusammenhängt, nicht mit Sprache gemeinhin, sondern mit Sprache, welche gesprochen wird, akustisch! Es wurde mir nach langen Diskussionen, nicht nur mit Dieter, fassbar, dass jeder Buchstabe, jedes Zeichen, jede Note nur ein Hilfsmittel der Kommunikation sein mußte und es wurde mir glasklar, dass es, auch was die gesprochene Sprache betrifft, viele Arten von lokalen Dialekten gibt, wovon wiederum die Art der Kommunikation sehr abhängig zu sein scheint. Dass es da noch die Sprache des Körpers gibt, welche wir gerade im Begriffe waren diese zu studieren und zu erlernen erleichterte mir das Begreifen schon sehr. Es begann sich in mir eine Ahnung fest zu setzen, die im Schauspiel das Zentrum all jener Disziplinen zusammen zu fassen schien, die sich mit Kommunikation beschäftigten. Wie richtig das war, ahnte ich damals überhaupt nicht. Der “Blaue Dumpf” war im Moment äußerst wichtig, er war ja auch mit allen möglichen und unmöglichen Kleinodien vergraben worden. Die Frage war nur, wo? Ob er jemals gefunden wurde, entzieht sich meiner Kenntnis.

Unsere erste gemeinsame Fahrt nach Novi Vrh, meine erste Fahrt nach Jugoslawien sowieso, Dieters erste selbständige Fahrt mit dem 600er Fiat ebenso führte uns bei Sentilj über die Grenze, kurz danach links der Mur entlang und dann geradeaus, die Hügel hinauf. In Dieters Kopf war die Landkarte, ich war hilflos ausgeliefert und hatte keine Ahnung was mich erwartete. Schloss Obermureck kannte ich von der österreichischen Seite her, vom “Sehen” her sozusagen. Jetzt fuhren wir dran vorbei, holperten uns über verstaubende Schotterstraßen. Es war ein finsteres Schloss damals. Unbelebt. Nicht sehr symphatisch! Am späteren, sehr späten Nachmittag kamen wir an unserem Ziel an. Es war – auf steirisch beschrieben – eine etwas größere “Keischn” mit einem Schuppen. Kaum hatte Dieter den Motor des 600ers abgestellt, wurden wir auch schon von den Bewohnern des Hauses willkommen geheißen. In einer Sprache, die uns unbekannt war und mit einem Brauch, den wir ganz einfach hinnahmen: ein “Stamperl” (Gläschen) Schnapps und etwas Ähnliches wie Brot – ein kleines Stückchen. Dieter hatte während der Fahrt nach Novi Vrh Zeit genug mich über die Bewohner aufzuklären. Offensichtlich waren es Roma – damals wurden sie noch als “Zigeuner” bezeichnet – und hatten sich während der Partisanenzeit hier niedergelassen. Samt Nachwuchs. Es war eine auf den ersten Blick sehr symphatische und nette Familie. Wir radebrechten und gestikulierten und lachten und blödelten schnapsunterlegt bis spät in die Nacht hinein. Bis zu dem Augenblick wo wir trotz Umnebeltseins feststellen mussten, dass die beiden Bewohner mit allen Mitteln versuchten uns ins Bett zu bringen – mit ihrer Tochter. Es blieb beim Versuch. Ein wenig Erfahrung hatten wir schon und ausserdem kam uns noch die Theorie aus der Literatur zu Hilfe. Oberhalb des Kellerzugangs war ein Zimmer für die Familie Dorner reserviert, dort legten wir uns zur Ruhe. Bis uns die Äuglein zufielen, blödelten wir noch voreinander hin und malten uns eine Zukunfts-Existenz im wunderschönen Südslawien aus. Nicht im Entferntesten hätte ich damals an das Hotel “Korotan” (“Kärnten”) am Südufer des Wörthersees mit seinem exklusiven Umfeld und an die ersten Ansätze der Verdrängung von Live-Music durch eine sogenannte Discothek von damals und an die sogenannte “Chefin”, an Iovanka Tito, an die dalmatinischen Inseln, die Krka, die abenteuerliche Cetina oder an das orgelnde Meer bei Zadar gedacht!

Die Idee, die Bühne im Palais Meran, an der gerade gewerkelt wurde, mit John Osbornes “Blick zurück im Zorn” zu eröffnen, wurde anlässlich eines Ausflugs nach Markt Allhau entwickelt. Damals war dieser Markt noch etwas weiter von Graz entfernt, die Süd-Autobahn kam nicht einmal in den kühnsten steirischen Träumen vor. Rudolf Buczolich hatte sich dort eingekauft, sich sozusagen einen alten Bauernhof als “recreation area” zugelegt und musste ihn also renovieren und restaurieren. Und als er hörte, dass ich mich unter anderem in dieser Gegend ganz gut auskannte, schlug er einen gemeinsamen Ausflug nach Markt Allhau vor. Dieter und ich machten selbstverständlich mit. Buczolich war nicht nur einer unserer Professoren an der Kunst-Akademie, er war auch einer der bekanntesten Schauspieler in Graz. In unzähligen Rollen erfreute er das Publikum. Besonders eindrucksvoll war die Leistung Rudolfs in der Rolle des Wurm in Schillers “Kabale und Liebe”. Das war noch in den Kammerspielen, dem Ausweichquartier des Schauspiels im ersten Stock des Landhaushofes in Graz. Nicht zu vergessen war da auch die Mitwirkung an dem Straßenfeger der Sendergruppe Alpenland, dem Kriminal-Hörspielrätsel “Wer ist der Täter?” von Erwin Gaudernak, in dem Buczolich den Assistenten von Kriminal-Kommissar Leitner alias Hans Dolf gab. Alle 14 Tage wurden die Straßen ab 20 Uhr vom Radio leergefegt. Ab dem Augenblick, in dem wir die Kunst-Akademie besuchten, gehörten wir zu den Fege-Meistern der alpenländischen Straßen. In den wichtigen Rollen der “Die Pferde sind gesattelt!”-Darsteller. Ich erinnere mich noch an den ersten Satz den ich da sprechen durfte: “Hallo? Hier Hotel Sacher! Portier. Sie wünschen bitte?”. Natürlich wurden später dann mehr Sätze draus, ganze Sendungen, vor allem im wissenschaftlichen Bereich. Anscheinend hatte ich mich hörfunkmäßig bewährt. Dieter saß ein paar Räume zu dieser Zeit unter mir und stoppte die Vorlaufzeiten von Schallplatten. Das waren und sind jene Sekunden von Beginn der Aufzeichnung bis zum Beginn des Gesangs. Für Moderatoren von diversen Sendungen war dies eine sehr wichtige Information. Da saßen wir also am Tisch vor dem Bauernhaus in Markt Allhau und jausneten und tranken und ließen die Ideen zur Eröffnung der kleinen Bühne im Palais Meran sprühen. So nebenbei kam von Herrn Professor Buczolich auch der “Blick zurück”-Vorschlag. Zurück in Graz dachten wir ein oder zwei Wochen nach, lasen so einiges, dachten wieder nach und fassten dann den “Blick zurück”-Entschluss und redeten gleich mit Eva Schäffer und Elisabeth Wondrak und Erhard Koren. Alle waren einverstanden und wir sprachen kurz mit Rudolf Buczolich, der sogleich die Regie übernahm. So entstand die allererste Initiative der Kunst-Akademie.

Der Gries-Platz war des Abends in Graz einer der verrufensten Plätze. An seiner nördlichen Ecke waren ein paar Verkaufs-“Stände” angesiedelt. Sobald es finster wurde, getrauten sich nur zwielichtige Figuren in diesen dunklen Bereich. Der Raum für die Fußgänger war von der Brückenkopfgasse bis hinunter zum Griesplatz mit einem Schutzgitter abgesichert. In diesem Bereich ratterte damals noch eine Straßenbahn gefährlich nah an den Fußmobilen vorbei und das waren damals jede Menge Menschen und Hunde – na gut, heute wird es schön langsam wieder, die geistlosen Zeiten sind ja so ziemlich zu Ende. Das Schutzgitter trennte sicherheitshalber Fußmobile und Straßenbahn. Damals erlernten wir gerade das “Spannung-Halten”. Sowohl theoretisch, als auch praktisch, denn dabei gab es jede Menge zu erfahren. Immer wieder wurden wir darauf hingewiesen, dass dies auch im privaten Bereich funktionieren solle. Ein auserwählter Kreis von Eleven wollte das natürlich ganz genau wissen und erwählte den Griesplatz zur Experimentalzone. In der Brückenkopfgasse, an der Einmündung zum Griesplatz holten wir tief Luft, “stützten” so wie wir es gelernt hatten mit Zwerchfell und ohne Muskel, schwangen uns über das Schutzgitter – zur Unterstreichung der action schlugen wir dabei noch locker die sommerlichen Badetücher um die Schultern oder Achseln – und schritten zielgerichtet und ganz bewußt querplatzein und kerzengerade auf die “Standln” und die davor befindlichen düsteren Menschengruppen zu. Immer unter “Spannung”. Zugegeben, es war eine Art Mutprobe, aber es funktionierte perfekt und zu unserer vollen Zufriedenheit. Die Gruppen lösten sich auf, die Menschen verkrümelten sich. Das wiederholten wir immer wieder, solange bis wir eines Abends aus den dunklen Ecken des Platzes laute Stimmen hörten und dann einen dumpfen Knall, dem Stille folgte. Da wurde uns dann doch irgendwie “anders”, ließen “Stütze” Stütze sein und “Spannung” Spannung und verkrümelten uns selber still, heimlich und leise. Dieser Gegend blieben wir längere Zeit hindurch fern.
Obwohl Novi Vrh zu Jugoslawien gehörte waren die Fahrten dorthin für Dieter und mich kurze Ausflüge zu gut Bekannten in unmittelbarer Nachbarschaft. Dass man dort neben Deutsch auch Slowenisch sprach und eigentlich Serbo-Kroatisch sprechen sollte, fiel uns gar nicht auf. Das war doch selbstverständlich. Genauso selbstverständlich war, dass Peter Handke im Keller des Forum Stadtpark an seinem slowenischen Roman umherschriftelte. Slowenisch oder “windisch” einerlei. Hier wie dort waren Menschen am Werken, Menschen die einander ähnelten, ob sie in Novi Vrh werkten, ob in Bad Mitterndorf, in Weißenbach oder in Graz. Wir machten uns auch gar keine Gedanken über mögliche Zeitnot bei unserer Rückkehr. Früh genug, nämlich noch während unserer Akademie-Lehrjahre, mußten wir Verantwortung und damit auch den Sinn von Bühnen-Organisation leibhaftig erfahren, bleibend für ein ganzes – nicht nur – Bühnen-Leben. Wir mussten erst begreifen, dass wir zwar für das Publikum im Zentrum des Geschehens standen, aber für das Geschehen am Theater selbst nur eines von vielen, vielen Rädchen darstellten. Dieter und ich waren tagsüber in Novi Vrh. Des Abends musste ich im Grazer Schauspielhaus sein. Der “treue Diener seines Herrn” von Grillparzer wartete auf mich. Wie immer fuhren wir rechtzeitig von Novi Vrh weg. Wir erreichten die hölzerne Murbrücke von Bad Radkersburg. Da allerdings war der Grenzbalken geschlossen. Davor stand die Miliz. Da half kein Reden, kein Lächeln, wir mußten langsam aussteigen und in das Wachlokal. Beinhart nahm man uns und den 600er Fiat draussen auseinander. Der Minutenzeiger meiner Armbanduhr begann Flügel zu bekommen. Ich nahm mich zusammen und hoffte, dass niemand bemerkte, dass ich unruhig wurde, dass ich mir insgeheim die noch zu verbleibende Zeit ausrechnete,die ich noch hatte bis zum Beginn der Vorstellung. Der Grenzbalken ging hoch, wir holperten über die Brücke. Ich bekam den österreichischen Balken noch mit, die leicht misstrauischen Blicke unserer Beamten, bekam das Rasen Richtung Graz mit, ich wusste, dass jetzt der “Garderober” dem Inspizienten Meldung machen musste. Mein Herz schlug bis zum Hals in höchster Frequenz. Wir hetzten durch Graz, die Bürgergasse hinauf. Dieter fuhr bis zum Bühneneingang, ich rannte die paar Treppenstufen hinauf, gleich zum Inspizienten, empfing da den drohenden Finger, Kopfschütteln und den bösen Blick, eilte wieder vom Inspizientenpult im linken Bühnenbereich hinaus zum glücklicherweise bereitstehenden Lift, fuhr in den ersten Stock. Meine drei Mitspieler standen schon da, kostümiert und in voller Maske, ich warf mich ins Kostüm hilfreich assistiert von unserem Garderober, stürmte hinunter in die “Maske” zu Kurti, unserem Theater-Friseur, der im Übrigen einer meiner Jugendfreunde war – und endlich hatte ich Zeit, Atem zu holen, mich etwas zu entspannen. In den nächsten Minuten wurde mir klar, warum uns unsere Professoren immer wieder davor warnten, vor dem Unvorhergesehenem, kurz vor Beginn einer Vorstellung. Was wussten wir schon, wonach die jugoslawische Miliz suchte? Hatte das überhaupt mit uns persölich zu tun? Waren wir nur zum ungünstigsten Zeitpunkt am falschen Ort? Die Milizionäre kannten auch sicher nicht den Inspizienten dieses Abends im Grazer Schauspielhaus! Wahrscheinlich wussten sie nicht einmal, was das überhaupt ist, ein Inspizient! Aber letztlich hat dieser Inspizient – an dessen Namen ich mich leider nicht mehr erinnere – die volle Verantwortung für diesen Abend getragen, vor allem ertragen.
In jungen Jahren schon hat sich Dieter dem Berg Athos mit seiner Mönchsrepublik zugewandt, sehr früh ließ er sich dort auch griechisch-orthodox taufen. Er lebte seinem Glauben. Je länger, desto intensiver. Es begann schon damit, dass wir beide gebrauchte deutschsprachige Bibeln ins Tito-Jugoslawien schmuggelten. Unser beider Leben ist miteinander verwoben und so werden wir Dieter auf diesen Seiten immer wieder begegnen. Menschen die sich ernstlich mit wahrhaftiger Kommunikation abgeben wissen schon, was dahinter steckt.
