Aus dem Küchenfenster musste ich mich schon ein wenig hinauslehnen, um in den Hof des Hauses Klosterwiesgasse 65 zu sehen. Weswegen ich das auch kaum tat. Warum auch? Na gut, dort wohnte ein Herr Möhner, dessen Sohn Gernot ging mit mir zur Volksschule. In die Wielandgasse. Sein Vater sei ein bekannter Filmschauspieler, sagten mir meine Eltern und einige Erwachsene aus der Gegend rundumher. Das war aber nicht meine Begriffswelt, also schob ich die Welt des Films von mir weg. Diese Welt hatte keinen Platz in mir. Eine Zeit lang zumindest nicht. Carl Möhner bedeutete mir also nichts. Solange jedenfalls, bis eines schönen Tages leiser, fremder Lärm aus dem Hof der Klosterwiesgasse zu mir drang. Neugierig lugte ich aus dem Küchenfenster. Da machten sich zwei Männer an irgendeinem hölzernen Dreibein zu schaffen, machten oder schraubten ein großes schwarzes Ding darauf fest. Fast zur selben Zeit kam aus der Wohnung Möhners, besser geschrieben, der Balkontür und dem Balkon, eine gelbe Scheibe heraus und herab, gleich darauf tauchte eine kleine gelbe Figur in der Scheibe auf, flog durch ein Loch in dieser Scheibe, wurde anscheinend an einem Faden wieder hochgezogen, nur um wieder – und das wiederholte sich einige Male – hinuntergelassen zu werden. Einer der Männer hinter dem hölzernen Dreibein im Hof blickte angestrengt und intensiv durch das schwarze Ding. Es ging alles sehr ruhig ab, wie gelernt und einstudiert. Jeder wusste anscheinend was und wie und wo etwas zu tun war. Dann hörte man Carl Möhner rufen: “Achtung! Aufnahme”. Gleich darauf rief ein weiterer – nur etwas leiser: “Drei – Zwei – Eins”. Darauf machte irgendwas irgendwo “Klatsch”. Das gelbe Männchen flog durch das Loch in der Scheibe, gefolgt von einer Pause im Geschehen. Dann gab es ein paar Wiederholungen der ganzen Szene des Männchen-durch-Scheibenloch-Fluges. In der Zwischenzeit war aber schon mein Vater bei mir aufgetaucht, erklärte mir, was ich da alles sah, erklärte mir Stativ und Filmkamera, erklärte mir in Kürze das Werden eines Trickfilmes. Denn um einen solchen handelte es sich ja ganz offensichtlich. Die gelbe Scheibe war eine fliegende Untertasse und das Männchen war einer der Piloten oder so. Was da gedreht wurde blieb uns verborgen, aber in diesen Augenblicken wurde die Welt des Films in mir ganz präsent. Carl Möhner wurde zu einem Begriff. Und als überall die Plakate auftauchten zu einer österreichischen Produktion namens “Die letzte Brücke” noch dazu im Nachbarstaat Yugoslawien gedreht, mit Carl Möhner in einer der Hauptrollen, sagte ich mir: “Den kenn’ ich ja, das ist der Vater von Gernot, meinem Schulkollegen”. Natürlich interessierte mich dieser Film. Ich durfte ihn sogar sehen. Ich kann mich leider nicht erinnern, ob er zur damaligen Zeit für Jugendliche geeignet war oder nicht, gesehen hab ich ihn. Bei “Rififi” war das schon etwas anders. Diesen Streifen durfte ich erst Jährchen später sehen. Mit Carl Möhner, klar.
Von dieser Brücke an, die zwar die Letzte war, für mich aber die erste, die eine solche Bedeutung übertragen bekommen hatte, hat mich das Thema “Film” schon interessiert. Ich konnte zwar noch nicht viel anfangen damit, bis auf das Konsumieren. Naja, die Parabel hatte ich schon verstanden. Ich hatte allerdings noch keine Ahnung von der Produktion, bis auf das Wenige, das ich so im Vorbeigehen sehen und erleben konnte. Da stand zwar im Nachspann der Begriff “Schnitt” und “Regie” und eine Reihe anderer Funktionen, was das jedoch konkret war, entzog sich mir. Die Rolle der berühmten “Alten Brücke” (stari most) in Mostar im heutigen Bosnien-Herzegowina blieb jedenfalls in mir haften. Ich erinnere mich heute noch daran. Erst recht nachdem ich in Mostar selbst, gleich neben dieser Brücke, Musik erleben durfte, wie ich sie sonst sehr selten erlebt habe. Und als diese Brücke, steil und im uralten Brückenbogen, von leichtgläubigen Elementen Jahre später vernichtet wurde, tat es mir tatsächlich körperlich weh. Ich wusste, dass diese Brücke von Nicht-Locker-Lassenden wieder errichtet werden würde, aber dennoch, der Schmerz blieb. Ich bin überzeugt davon, dass, wenn dieser Staat reifen würde, einmal zur EU gehören würde, die Leichtgläubigen sich nicht mehr in die Irre führen ließen, diese Brücke es wert wäre, ein paar Tage in der Region zu verleben.
Diese “Alte Brücke” schlägt tatsächlich eine weitere Verbindung, eine Brücke von Mostar ins Studio Heinz in Wien, in der Penzinger Straße. Unter dieser Brücke fließen die berühmten Kärntner ORF-Jahre, fließen die Jahre von Ö3, die kompletten ORF-Jahre, fließen Hörfunk- und TV-Werbespots, unzählige Events, die SCS-Gründerjahre, die Shows und Messen, die jahrelange Arbeit für Porsche-Austria bis zu den Brücken-Eckpfeilern, gebildet von den vielen Synchronisationen von BBC-Dokumentationen. Kurz nachdem ich von Gerd Bacher und Ernst Grissemann aus Kärnten nach Wien gerufen wurde, hatte es begonnen. 4 Filme pro Tag lautete die Zielvorgabe. Jede Menge Kolleginnen und Kollegen waren daran beteiligt. Im Laufe der ersten Woche bemerkte ich erst, dass das, was von mir als Alltags-Gewohnheit gelebt wurde, gar nicht so selbstverständlich war. Ich meine das Prima-Vista-Lesen, wie man es nannte, einschließlich irgendwelcher Fachausdrücke, vor allem medizinischer Art. Natürlich kam da der Latein-Unterricht zu seinem Recht und der Englisch-Unterricht, manchmal auch der Italienisch-Unterricht. Genau davon war ich überrascht, als ich bemerkte, dass das, was ich da tat, überhaupt nicht selbstverständlich war. Dass viele, allzu viele der “Profis” mit dem Lesen und dem Umsetzen des Gelesenen in das Gesagte Schwierigkeiten hatten. Die Texte bekamen wir erst kurz vor der Aufnahme. Da mussten wir uns zusammensetzen und den ganzen Film dem Herrn Regisseur – damals gabs in solcher Funktion nur Herren – einmal vorlesen. So als würden wir bereits synchronisieren. Der Regisseur sagte jedem Einzelnen, wie er seinen Part, seine Rolle als Sprecher anzulegen hätte, welche Rolle er sozusagen zu spielen hätte und was und wie er das zu tun hätte. Dabei wurden spezielle Eigennamen und deren Aussprache erklärt. Einer machte da eine Ausnahme. Erhard Jungnikl. Damals war er als Regisseur unterwegs, mit ihm drehte ich auch einige Szenen für einen Pilotfilm auf dem Vorläufer der jetzigen Südautobahn zwischen Wien und Wr. Neustadt. Hier endete die Süd-Autobahn. Erhard beschränkte sich auf die Eigenheiten der Aussprache von Eigennamen und Ortsbezeichnungen. Es war auch ganz gut so. Die Arbeit ging schneller und besser ab. Jeder bemühte sich, selbst zu sein und Autoren und Übersetzer das sein zu lassen, was sie waren, nicht mehr aber auch nicht weniger hineinzugeheimnissen. Mit Erhard verband sich in weiterer Folge ein paar Jahre lang eine innige Freundschaft. Ich kann mich an seinen Bauernhof im südlichen Burgenland, in der Gegend von Strem erinnern, an der ungarischen Grenze, ich glaube man nannte diese Gegend “Hölle”. Erinnern kann ich mich an den Wachturm der Ungarn, der über den Waldrand herüber lugte, an den Ofenrost, der meinen – heute ältesten – Sohn an der Nase verletzte. Er war noch sehr klein damals. Es hatte ihm dennoch sehr gefallen auf dem Hof. Etwas später hatten wir auch einen tiefgehenden Schock erlebt, als wir ankamen und weit und breit kein Erhard zu sehen war. Alles stand offen, Tür und Fenster, es sah so aus, als wäre er gerade in den Wald gegangen. Es war auch so. Nur, dass er sich aus dem Wald in den Hof zurück geschleppt hatte, mit Schmerzen ins Auto setzte und ins Krankenhaus nach Güssing gefahren war. Er hatte sich mit der Motorsäge in den Unterschenkel gesägt. So war unser Erhard. Nie werde ich ihn vergessen. Meine Unrast trieb mich hinaus in die Welt. Erhard blieb daheim. Ich hätte ihn öfter gebraucht. An meiner Seite. So ähnlich ging es mir mit Herbert Giesser. Ich lernte ihn als Meister des Tons im Studio Heinz kennen. Und das war er tatsächlich. Er war einer der kompetentesten und bekanntesten Tonmeister. Es war immer eine Freude mit ihm zu arbeiten, zu diskutieren und Meinungen auszutauschen oder zu begründen. Es ist ihm auch gelungen, mich mit Hilfe eines “Grenzflächenmikrofons” zu bluffen. Das heißt mich zu desorientieren, so zu tun als hätte er auf das Aufstellen des Mikros vergessen und dennoch alles aufzunehmen was im Sprecher-Studio ablief. Diese Mikros waren damals noch eine kleine Sensation. Es war komplettes Neuland, welches die Tontechnik damit betrat.
Da gabs noch “Reifi” Reifenauer, den Werbungs-Spezialisten. Oder Rudolf Tauscher, einen der Heinz’schen Tonmeister. Rudi hat mich fast mein ganzes Wiener Leben und darüber hinaus begleitet. Er hat mich einmal gefragt – so wie jeden anderen Kollegen auch – ob ich hin und wieder Zeit hätte für eine Ton-Aufnahme für die sogenannten “Adventisten”. Na klar, hin und wieder hatte ich Zeit. Ich konnte nur noch nichts anfangen mit dem Begriff “Adventisten”. Irgendwie hatte es mit Religion zu tun. Fremd war mir das natürlich nicht. Dabei blieb es. Dieses “Hin und Wieder” dauerte jahrzehntelang. Dass einmal die ganze österreichische Kurzwelle von den Adventisten “gekauft” werden würde, gehörte damals ganz einfach zur Phantasterei. Wie so vieles in der Anfangs-Phase der Digitalisierung.