So nebenbei entdeckte ich meine Bereitschaft, Unbekanntes zu akzeptieren. Aus dem universitären Bereich erfuhr ich beispielsweise, dass mancher lokale südösterreichische Eigenname oder regionale Begriff slawischen Ursprungs wäre. Hinter vorgehaltener Hand flüsterte man die wahre Herkunft des Ortsnamens “Graz” einander zu. In den Schulbüchern war natürlich ganz anderes zu lesen. Eines schönen Tages kamen Dieter Dorner und ich sogar mit der schottisch-gälischen Sprache in Berührung, einer überlebenden Rest-Sprache des Keltischen, gesprochen in der Gegend einer Inselkette namens Hebriden. Ich besaß damals ein Bertelsmann-Hand-Lexikon. Dieses gab gerade die nötigste Information frei. Ein paar Zeilchen. Das war damals so. Wissen musste teuer erkauft werden. Wer es sich nicht leisten konnte, blieb uninformiert, blieb einfach einfach. Auch wer es sich leisten konnte, aber es nicht nötig hatte, blieb genauso einfach. Dass es irgendwann einmal Wikipedia geben könnte, das Wissen der Menschheit in einer Datenbank versammelt und ständig aktualisiert, die komplette Datenbank beinahe gratis, das wagte nicht einmal der kühnste Träumer zu erträumen, in der Geschichte der Menschheit erstmals so eine Möglichkeit zu schaffen. Das wäre “damals” noch ganz linkslinks gewesen und verpönt, sogar im institutionellen stalinistischen Kommunismus. In jenen Tagen gaben wir den “Blick zurück im Zorn” als Abschlussarbeit zum Besten, Dieter Dorner als Jimmy, ich als Cliff. Parallel dazu gastierte das englische National-Theater, das berühmte Old Vic, im Grazer Opernhaus. Dort lernten wir “Sir” Ashleigh Alan Collins kennen. Auf die Frage woher er eigentlich käme, antwortete er auf schottisch-gälisch. Das gefiel uns. Und als er uns noch zeigte, dass man diese Sprache auch schreiben konnte, hatte er uns sowieso gewonnen. Wir führten ihn über den Markt am Kaiser-Josef-Platz, dem Stadtpark entlang bis hin zu “unserem” Palais Meran, der Heimstatt der zukünftigen Kunst-Uni. Selbstverständlich zeigten wir ihm dieses Schloss. Mit einigem Stolz und der Unterstützung von Frau “Maria”, der guten Geistin der Akademie, präsentierten wir den Prunksaal im ersten Stock und schließlich unsere “Probebühne”, den Schauplatz unserer “Blick zurück im Zorn”-Aufführungen. Wir hatten bereits begriffen, dass es weit mehr Kulturen gibt, als uns beigebracht wurde und wir waren bereit, mehr Kulturen zu akzeptieren, wo auch immer sie in unserem Wissen auftauchen sollten. Ich meine ganz natürlich gewachsene Kulturen, keine Kult-Uren, von irgendwelchen Prominenten öffentlich gemachte angebliche Ur- und Meinungs-Kult-Uren. Damals hatten wir noch keine Ahnung von den diversen “Mounds” Amerikas, damals existierte der “Urwald”, wusste man nicht, dass diese Wälder in großen Teilen nichts anderes waren als vernachlässigte Kultur-Landstriche, damals gab es für die indigenen Völker des Nordens nur die einfache Bezeichnung “Eskimos”, von den unzähligen Kulturen Afrikas oder Asiens ganz zu schweigen. Wir waren damals jedenfalls aufnahmebereit zu akzeptieren.


Damals – Ende der 1960er-Jahre – hatten wir die Grundlage unserer Zukunft und der unserer Nachkommen erfahren: Die eben erwähnte Bereitschaft zur Akzeptanz und die Abstinenz analogen strategischen Denkens. Wir waren und sind natürlich bereit, zu akzeptieren, dass es in prä-kolumbianischer Zeit in diesem riesigen Kontinent jenseits des Atlantik Städte gab, die damals vor grauen Jahren so groß wie Paris oder Berlin waren, dass dieser Kontinent vor Leben pulsierte. Kolumbus, Vasco da Gama, Pizarro und die vielen anderen waren keine ruhmvollen Entdecker. Seefahrt gab es schon lange vor ihnen und sogar ganze Flotten, Wanderbewegungen über ständig sich verschiebende Kontinente hinweg. Wir sollten wissen, dass parallel zu unseren Schriftsprachen in Europa und Asien eine drei-dimensionale Bildsprache vorhanden war, die mit wenigen Ausnahmen nur deswegen vernichtet wurde, weil Europäer – in ihrem eigenen Verständnis als “Entdecker” – nicht verstanden, was sie da ganz gegenständlich in Händen hielten. Sie konnten es sich nicht vor-stellen. Wobei die Bezeichnung “Europäer” nur auf die paar Familien hinweist, die damals die Führung eines ganzen Kontinents beanspruchten. Über allen schwebte natürlich die europäische katholische Kirche, die sich in ihrer grenzenlosen Selbst-Anmaßung als den Mittelpunkt des Universums verstand. Diesen elitären Gruppierungen vorbehalten waren auch die strategischen Spielchen, die heutzutage in der Spieltheorie festgehalten wurden und von jedermann verinnerlicht werden können. Gleicherweise von traditionellen geschäftstüchtigen Politikern selbstverständlich. Als solche werden sie von den Medien bezeichnet. Und es gibt einen Unterschied von “Medien” und “Journalisten”. Und es gibt einen Unterschied zwischen Politikern der Zeit bis zu den 1970ern und jenen von damals bis zum heutigen Tage. Von Menschen also, die hauptberuflich glaubhaft Märchen erzählen, welche von jenen gefunden werden, die Meinungen erforschen, und wenn auch die allgemeine Meinung sei, man solle den Lemmingen auf ihrem Zug ins Meer folgen, “back to the roots” sozusagen, irgendeiner findet sich, der dies als allgemeine Meinung eines Volkes verkauft. Und der dann übrig bleibt. Mit seiner treu ergebenen Gefolgschaft. Soweit sein Tagtraum.
Die Tatsache, mit Kulturen in Verbindung treten zu können ohne auf Schwierigkeiten zu treffen und ohne Probleme zu erschaffen, also ganz friedlich, diese Tatsache eröffnete mir, beziehungsweise uns, neue Möglichkeiten, machte unseren Kopf offensichtlich größer und weiter und füllte ihn. Ich bin dem ORF für die Chancen unser Land, vor allem dieses Österreich, seinen historischen Werdegang, seine kulturellen, politischen, praktischen und universitären Zustände 25 Jahre lang studieren zu dürfen sehr dankbar. Dieser Staat und das Land in seinen Grenzen liegt heute ziemlich offen vor mir. Der Kern dieses Staates. Daneben gibt es noch Mit-Spieler und Mit-Läufer. Diese sorgen für ständiges Kommen und Gehen und sind Bestandteil der nationalen Vitalität. Begonnen hat dieses Studium während meiner Ausbildung und hat sich fortgesetzt in der Zeit des “Jungen Theaters”, wurde ernstgenommen und erkannt in Kärnten und perfektioniert in Wien. Halbwegs ahnungslos habe ich mich zunächst in die Historie hineinfallenlassen mit der Hörspielserie “Wer ist der Täter”. Mit diversen Radio-Sprachaufnahmen ging es dann weiter, für die Abteilung Wissenschaft in Graz, wie ich mich erinnere. Ich habe Dieter begleitet, als er sogenannte “Vorlaufzeiten” bei Schallplatten gestoppt hatte, als Vorbereitung für das zukünftige Radio-Format Ö3. In diesem Zusammenhang kam ich auch das erste Mal in Berührung mit den Problemen des Urheberrechts. Wie bitternötig das Ausfüllen von AKM- und Literar-Mechana-Formularen für all jene war, die ihr Einkommen steigern wollten, darüber wurde ich erst etwas später aufgeklärt. Wobei ich an dieser Stelle festhalten möchte, dass ich selber noch nie Mitglied eines dieser oder ähnlicher Vereine gewesen bin. Auch nicht als Original-Erzähler von W. Ambros “Der Watzmann ruft”. Bis jetzt. Das kann sich natürlich noch ändern. Bis dahin liegen die Tantiemen in der Schweiz sicher und gut aufgehoben.
Ich weiß nicht wie viele Male ich in meiner Eigenschaft als ORF-Sprecher die Pseudonymitäts-Liste dieser Organisationen heruntergebetet habe, den Hörerinnen und Hörern angekündigt habe, dass sie in wenigen Sekunden eine großartige Komposition aus dem Bereich der Volksmusik, etwa von Harry Glück, wie ich mich erinnere, oder von Carlo Torresani et cetera hören werden. Der Nebenerwerb dieser Herren – und es waren ausschließlich Herren damals – war eindrucksvoll, vor allem im Sektor der Immobilien. Leider handelte es sich nicht um meinen ganz privaten Einkommensbereich, der resultierte nur aus den Hörer- und später dann aus den Sehergebühren Österreichs. In meiner Zeit als ORF-Moderator hätte ich jede Sekunde meiner Live-Moderationen mitschreiben und diesen Vereinen melden müssen. Da hätte sich die schöne freie Moderation – meine Moderation – selber ad absurdum geführt. Also habe ich es bleiben lassen, wie überhaupt das Moderieren um handelsübliche Preise damit gekillt wurde. Es sei denn, man hätte eine Sekretärin beschäftigt- es war das Jahrhundert der Besetzungscouches, über welche man nicht geredet hatte. Als ORF-Angestellter hatte man es sicher um einiges leichter, da hatte ein Angestellter auch eine Tipp-Mamsell zur Verfügung, aber als sogenannter Freier Mitarbeiter?
Während meiner Tätigkeit für Radio Graz hörte ich immer wieder einen bestimmten technischen Begriff, der mich stark interessierte, dessen Output ich zwar hin und wieder über Ätherwellen zu hören bekam, zum Beispiel als Kennung von der “steirischen Rundschau”, täglich um 13:45, bis auf Sonntag. Aber erst im Studio Kärnten bekam ich sie zu sehen, die sogenannte “Hallplatte”! Ich war tief beeindruckt! “Echos” zu erzeugen, war damals nur den großen Studios und Radiostationen vorbehalten. Zu dieser Zeit erkannte ich noch nicht die historische Ursache der Steifheit des Verhaltens vor den Mikrofonen und den resultierenden vielfältigen Eindrücken bei den Empfängern, den Hörerinnen und Hörern, ich erkannte noch nicht das enorme Befreiungspotenzial. Verständlich, erst musste ich Negatives erkennen, um Positives einschätzen zu können. Damals gab es für alle, die vor einem Mikrofon standen oder saßen den Begriff “Conférencier”. Und wehe Dir, Du nahmst ein Mikrofon in Deine Hand und bewegtest Dich! Eine Welt stürzte zusammen! In Wien lernte ich später einen im Jahre 1956 aus Ungarn geflohenen Filmtonmeister kennen, den der ORF in den Fernsehbereich übernommen hatte, der immer im weißen Mantel zur Arbeit erschien, der selber nie ein Mikrofon in die Hand genommen hätte, der nur “Regler” und Knöpfchen betätigte, der für Alles und Jedes Assistenten benötigte, der über das Mikro Frequenzen wahrgenommen hatte, die das Mikro überhaupt nicht erfassen und demzufolge auch nicht übertragen konnte. Ich bin ein Zeuge der Zeit: Ich saß im großen Komplex des Synchronstudios SK I am Küniglberg vor dem Mikrofon. Niemand getraute sich damals etwas zu sagen. Cutterin, Regisseur, Tonassistenten etc. nahmen seine Meinung einfach hin. Ich auch. Dieses eine erste Mal. Ein zweites Mal nicht mehr. Weswegen ich sogar Rauchen durfte. Während der Aufnahmen! Heute bin ich Nichtraucher. Ich mag einfach nicht mehr, das Rauchen.
Im Studio Kärnten bearbeiteten wir unsere Beiträge selbst, das heißt, wir schnitten unseren Ton selber. In Wien war dies beinahe ein Verbrechen, wir von Ö3 gefährdeten Arbeitsplätze! Ich lernte, dass man nur dadurch, dass man etwas zu viel erledigt hat, weil es etwa den Arbeitsprozess beschleunigte oder verkürzte, Arbeitsplätze von anderen gefährden konnte, das bedeutete, je weniger man tat, desto besser wurde es für die Allgemeinheit, desto sozialer war man oder ist man, zumindest eine Zeit lang. Bis wann man das sei oder sein darf, das wird uns schon irgendeiner erklären, aus dem Fernsehapparat oder in irgendeiner Zeitung. Als “Selbstständiger” wurde man in diesen Jahren überhaupt sehr eigenartig angesehen. Ich gebe zu, dies hat sich bis heute nicht unbedingt stark verändert. Bis jetzt – 2019 – lautete der Lebensplan so: Grundausbildung – Berufsausbildung – Anstellung – Pension – Grab oder Verbrennung. Du brauchtest Dich um nichts mehr zu kümmern, warst alle Sorgen los. Und wenn Du bei den sogenannten Wahlen auch noch ständig die für Dich richtige Partei gewählt hast, dann sowieso – hoffentlich. Eine Zeit lang, vor der großen Wirtschaftskrise, um das Jahr 2000 herum, waren die Banken sehr gerne bereit, für Dich die Familienplanung zu übernehmen, und zwar langfristigst, sogar noch die Planung für Deine Kinder zu übernehmen! Du solltest Dir absolut keine Sorgen machen müssen! Sich Sorgen zu machen, bedeutete ja auch selbständig zu denken! Das erledigten doch andere für Dich!
Aufgrund der Tatsache, dass in den Fernsehkameras von vorgestern noch Ikonoskope verbaut wurden, die nur drei Grundfarben “sahen”, durfte man auch nur diese Grund-Farben in seinen Kostümen verwenden. Grün hatte hier nichts verloren – ich hab‘s versucht! Sogar auf Körpersprachliches hatte “Fernsehen” enorme Auswirkungen. Jede Bewegung aus dem Sitzen heraus auf die Kamera zu, also in Richtung Kamera, wirkte bedrohlich, die Bewegung selbst vergrößerte sich. Das Know-how die Objektive betreffend und das ganze Drum-Herum war noch sehr in Entwicklung begriffen. Da war die Bühnentechnik schon etwas weiter.
Von Anfang an lief das Wissen um die Sprech- und Atemtechnik doppelgleisig. Da war zum Einen die tradierte Schiene auf dem Geleise von der Bühne her, da nahm man den Herrn Hey und die Dame Balser-Eberle als Bühnenregulativ und als Regel für alle anderen davon abgeleiteten Berufe. Zum anderen begann sich auf Nebengeleisen schon etwas zu regen und zu bewegen. Man fing an zu ahnen, dass wir alle mehrsprachig aufwachsen würden, vor allem im österreichisch-bayerischen Raum. Zumindest rechnete man in den 1960er-Jahren mit mindestens drei Sprachen: Lokalkolorit – Dialekt – hochgelautete Umgangssprache. Mittlerweile sind die unzähligen Lokalkolorite bereits verschwunden und die Dialekte werden immer verwaschener. Als Zeuge der Zeit beobachte ich die rasante Entwicklung hin zur hochgelauteten Umgangssprache, die Regelungen der amtlichen Wörterbücher und die damit einhergehende Minimierung der Verständlichkeitsprobleme. Wie haben Wissende gelacht über die kleinen Bürgermeister und Beamten dieses Staates, wenn sie einmal einem Mikrofon gegenübertraten oder etwas Offizielles in “hochdeutsch” verlesen mussten – vorbei! Ein ganzer dicker Großglockner fällt uns allen von der Seele. Vorbei sind für immer und ewig jene Zeiten, wo Mitmenschen geglaubt hatten, sie könnten sich Wissen mit billigem Geld erkaufen! Oder es gereicht hatte, zu verbreiten, dass man bei diesem oder jenem “gelernt” hätte. Sogar unter den “Machern” der elektronischen Medien herrschte die Meinung vor, man könnte die Technik des Sprechens einfach und schnell “erlernen”, in wenigen Stunden, “man rede ja sowieso” und “lesn un schraebm kemmo jo a!” (und lesen und schreiben können wir ja auch!). Können wir das wirklich? Vor allem als Mitarbeiter von jenen Medien?
Untrennbar mit dem Sprechen verbunden ist die Zwerchfell-Atmung. “A Lem long tua i odman! Oiso, wos sulls, za wos broch i denn des!” (Ein Leben lang tu ich atmen! Also, was soll das! Wozu brauch ich denn das?). Ich gebe es zu: Seit 1963 ist die Zwerchfell-Atmung für mich die vollkommen normale Atmung. Ich hab diese Atmung mithilfe von ganz normalen Stühlen und ein paar Bänden einer Enzyklopädie erlernt. “Erlernt” ist nicht ganz korrekt, “erweitert” trifft den Vorgang schon etwas besser. “Korrigiert” trifft es in Wahrheit ganz korrekt. Denn im Schlaf habe ich sowieso richtig geatmet. Jedes Baby, jedes Kleinkind “tut” dies. Nur etwas später, in so manchen Schulen, auch heute noch, wird vielen beigebracht auf die natürlichste Art zu atmen zu verzichten. Da wird mit aller Gewalt die Muskulatur um die Lungen aktiviert! Einstweilen ist man schon dahinter gekommen, dass diese zu sehr aktiviert werden kann und die Zwerchfell-Atmung dabei ganz einfach weg geschalten wurde! Mittlerweile vermutet man auch, dass wir alle viel zu sehr in “Schrift” denken, wer hätte das gedacht!

Eines Abends im Jahre 1967, im September dieses Jahres, wurde ich von einem Kollegen überfallen, er hätte da eine Idee und eine Gelegenheit und ich könnte mittun, ich sollte, besser gesagt, es müsste nämlich sehr schnell gehen und das Projekt liefe schon in ein paar Tagen, danach wäre es gar kein Projekt mehr. Es wäre für mich gar kein Problem, es wäre eine Lese-Aufführung, noch dazu hätte ich die Möglichkeit bei einer Welt-Ur-Aufführung mitzumachen, das wäre sowieso etwas ganz Besonderes! Zusätzlich wäre das ein Werk von Hugo von Hofmannsthal! Und dann wäre das noch dazu in Wien! In der Großstadt! Die sich gerade in der Phase der Selbstfindung befindet und aus den Albträumen erwachte! Ich überlegte kurz: Eine Lese-Aufführung von etwas, das es noch gar nicht gab! “Furcht” sollte das Werk heißen. Schon der Titel flößte mir den Begriff und damit die Bedeutung des Wortes ein! Ich nahm die Herausforderung an! Am 12.9. setzten wir uns in aller Frühe in den Zug. Auf der Fahrt nach Wien lasen wir das erste Mal die “Furcht” durch, ohne uns zu fürchten, im Gegenteil, wir freuten uns schon darauf, da zu sitzen und zu lesen. Manfred erklärte uns die einzelnen Charaktere und Ereignisse. Wir hatten keine Ahnung davon, dass wir ab sofort eine eigene, selbstständige Theatergruppe waren, mit eigener Bezeichnung. Ich war schon noch sehr naiv zu dieser Zeit. Aber damals dachte ich nicht allzu viel über den Begriff “Spätzünder” nach, noch nicht. Es gab ja auch keinen Anlass dazu.


Da saßen wir also in unserem Abteil des Waggons und kutschelten Richtung Wien. Auf den Morgen-Kaffee aus der Kanne des Buffett-Mannes hatte uns Manfred schon eingeladen, bevor er uns noch mit einigen Hinweisen zur Aufführung versorgte und wir mit der Erfassung der “Furcht” loslegten. Wir begannen, uns einzulesen. Mehr als schlecht und recht. Der kurven‑, brücken- und tunnelreiche “Semmering” lenkte uns natürlich ab. Wir machten Pause und bewunderten die Natur – und die finsteren Tunnels. Erst als wir unten waren, in der Ebene sozusagen, wurden wir wieder ernst und widmeten uns der eigentlichen Aufgabe, unserer Welt-Ur-Aufführung. Furchtlos lasen wir die “Furcht”, jeder für sich, leise, dann wiederum alle drei gemeinsam, halblaut, manchesmal laut, dann wurde aufs Neue kurz diskutiert und dann waren wir bereits in Wien. Damals noch am Süd-Bahnhof. Wien hatte in jener Zeit nur Kopf-Bahnhöfe aufzuweisen. Richtig geöffnet hat sich dieses Land durch die EU. Seitdem gibt es einen echten großen Durchgangsbahnhof. Seitdem schlägt auch der Puls der zeitgemäßen Zeit in dieser Stadt und damit gleichfalls in diesem Ost-Teil des Landes. Abgesehen vom Flugverkehr und der dritten Start- und Lande-Piste im Bereich des Flughafens VIE – Wien-Schwechat.

Dass wir beobachtet wurden, bei allem was wir taten, bemerkte ich erst, als ich den Schwerpunkt meiner Tätigkeit nach Wien verlegte. Das heißt, den größten Teil meiner Tätigkeit verlegte ich nach Wien, den anderen Teil meiner Tätigkeiten verlegte ich hingegen über ganz Österreich und seine damaligen “westlichen” Nachbarstaaten. Ich lernte und studierte und lernte. In “Dorabira” etwa (Dornbirn) bekam ich vom Herausgeber einer Jugendzeitschrift den Tipp mich doch einmal mit dem – damals nur mit sehr viel “Schillingen” im Print erhältlichen – “Amtskalender” zu beschäftigen. Was ich höchst dankbar auch tat. Bis zu jenem Augenblick als es ihn als CD gab und dieses Mammut-Werk letztlich genauso, wie so vieles, in Bedeutungslosigkeit versank.
