St. Peter – Wildes Fleisch!

Bee­te vol­ler Erd­bee­ren, dar­un­ter auch die beson­ders gro­ßen “Ana­nas”. Gebo­re­ne Ost­ös­ter­rei­cher sag­ten zu allen Erd­bee­ren Ana­nas und zu den Ana­nas sag­ten sie “Hawaii-Ana­nas”. Es muss ja Unter­schie­de geben. In der Bezeich­nung. Wegen der mög­li­chen Miss­ver­ständ­nis­se und in der Bedeu­tung der Frucht sowie­so, sonst wür­de sich der Sinn der Spra­che als sol­che ja gar nicht offen­ba­ren, wür­de sich in Grun­zen oder Miau­en oder Bel­len aus­drü­cken. Obwohl es star­ke Ähn­lich­kei­ten mit bestehen­den Lokal­ko­lo­ri­ten gibt oder gab. Jeden­falls hat­te wir tat­säch­lich Bee­te vol­ler Erd­bee­ren, und Salat, und Kraut, und Kohl­ra­bi, und Kren, und Radies­chen, rote und weis­se, und Ret­tich, und Rha­bar­ber, und Sta­chel­bee­ren, rote und weis­se, und Ribi­sel, rote und weis­se, und Erb­sen, und ganz nor­ma­le Boh­nen, und Käfer­boh­nen, und Bohn­scho­ten, und alle mög­li­chen Arten von Äpfel und Bir­nen, und Rin­glot­ten, Pflau­men und Zwetsch­gen, Kir­schen und Herz-Kir­schen und der Baum- und Rasen­schnitt, die Pfle­ge der Gemü­se­bee­te, des Obst­gar­tens, des Ligus­ter-Zau­nes an den Stra­ßen­sei­ten. Ja, das war unser “Gar­ten” in St.Peter, einem Stadt­teil von Graz. Am dama­li­gen wei­chen Rand von Graz. Es leb­ten nur ganz weni­ge dort. Es war bereits “Land”. Wir fuh­ren etwa eine hal­be Stun­de dort­hin. Mit dem Fahr­rad. Es gab zwar eine Stra­ßen­bahn nach St.Peter. Aber deren End­sta­ti­on lag am Haupt­platz und zu unse­rem Gar­ten war es noch ein gan­zes Stück. Zu Fuß fast nicht zu schaf­fen, es sei denn, es war einem irgend­wie lang­wei­lig. Aber das war es uns nie. Das Gefühl der Lan­ge­wei­le kann­ten wir gar nicht, das Gefühl von Stress und deren Fol­gen auch noch nicht. Die Kir­che von St.Peter emp­fand ich als schön. Ich hat­te sie zwar nie von innen gese­hen, aber vom Fahr­rad aus – egal ob vom Kin­der­fahr­rad oder vom Puch-Jung­meis­ter – sie war immer schön. Ob das dar­an lag, dass ich ein­mal, ein ein­zi­ges Mal, am Fuße der Kir­che aus Anlass eines Jubi­lä­ums­fes­tes Bekannt­schaft mit Ori­gi­nal angeb­lich kel­ti­schem Met schloss? Das Obst und das Gemü­se, das in unse­rem Gar­ten wuchs, trans­por­tier­ten wir meis­tens per Fahr­rad in die Stey­rer­gas­se zum Ver­kauf. Unse­re Stamm­kun­den freu­ten sich. In weni­gen Stun­den war, was auch immer, weg.
Das Grund­stück liegt an der Ecke Theo­dor-Storm-Stra­ße/­Gang­ho­fer­stra­ße. Es hat sich nicht viel ver­än­dert von der Anla­ge der Stras­sen her. Die Gang­ho­fer­stra­ße ist so kurz geblie­ben wie sie war. Gleich dahin­ter gab und gibt es Äcker und Fel­der wie einst, und bezeich­nen­der­wei­se den Ster­nä­cker­weg. Die Ab-Fahrt von der St.Peter-Hauptstraße hat­te es in sich. Da gings steil berg­ab, da ließ ich mein Rad lau­fen ohne an den Nach-Hau­se-Weg berg­auf zu den­ken. Da lief also mein Rad über Stock und Stein, in rasen­der Geschwin­dig­keit, nur von mir in Balan­ce gehal­ten bis knapp vor unse­re Gar­ten­tür, abge­bremst durch einen fes­ten und schar­fen Rück-Tritt in die Pedale.

Mein Vater hat­te in der Zeit nach dem Welt­krieg aus dem was der Luft­druck der Bom­be von unse­rem Geschäfts­lo­kal übrig ließ, eine Art Gar­ten­hüt­te gebas­telt. Da waren alte Mag­gi-Kanis­ter und Wer­be­ta­feln dar­un­ter, aus Bret­tern hat er Bän­ke und einen Tisch gebas­telt und vor allem ein Rie­sen­bot­tich zum Sam­meln des Regen­was­sers war unter den Res­ten. Trink-Was­ser gabs nur beim Nach­barn. Wur­de immer von mir geholt! Ganz wich­tig. Auch einen Schup­pen gabs. Zum Ein­la­gern des Heus. Bis zum nächs­ten Gast­spiel eines Zir­kus. Eines Tages brems­te ich mein Kin­der­fahr­rad vor unse­rem Gar­ten­tor ganz scharf ab, stieg vom Rad und war­te­te auf mei­nen Vater, der mir brav und gemäch­lich folg­te. Auch er stieg ab, lehn­te das Fahr­rad an den Ligus­ter, öff­ne­te das Tor und ließ mich als Ers­ten in den Gar­ten. Ich fuhr zur Gar­ten­hüt­te – und erstarr­te. Am Nach­bar­grund­stück, über den Ribi­sel­stau­den hin­weg klar und ein­deu­tig zu sehen, stan­den sich zwei Nack­te gegen­über. Sie hat­ten Säbel oder Degen oder Flo­ret­te in den Hän­den, irgend­was Dunk­les auf den Köp­fen, aber sonst hat­ten sie nichts an, abso­lut nichts. Sie foch­ten, lie­fer­ten sich ein Duell, so schien es. Erst nach eini­ger Zeit erkann­te ich, dass es Männ­lein und Weib­lein waren. Dass Fech­ten so ablief wie ich es augen­blick­lich mit­er­leb­te, hat­te ich noch nie erfah­ren. Die­se Aggres­si­vi­tät war für mich ganz neu. Da ent­deck­te ich etwas Neu­es. Für mich. Ich stand mit­samt mei­nem Rad wie erstarrt mit offe­nem Mund. Sowas hat­te ich noch nie gese­hen. Ich hat­te auch nicht gehört, wie mein Vater hin­ter mir her­kam. Nur sein Rad hör­te ich, das zur Erde fiel, dann eil­te er nach Vor­ne, hin zu den Ribi­sel­stau­den, irgend­was sag­te er zu den bei­den Nack­ten in ruhi­gem Ton, die dar­auf­hin zwi­schen ihren Büschen ver­schwan­den. “Das sind zwei Stu­den­ten, denen ist es heu­te zu heiß fürs Fech­ten-Üben” lau­te­te Vati’s Erklä­rung. Vie­le Jah­re spä­ter erin­ner­te ich mich aus Anlass mei­ner ers­ten Fecht­stun­den an die­ses Erleb­nis in unse­rem Gar­ten und konn­te mir einen beson­de­ren Reiz durch­aus vor­stel­len, der durch die­ses Wet­ter und einer geeig­ne­ten Part­ne­rin vor allem ande­ren gege­ben war.

Vati
Mein Vater mit 76 Jah­ren in sei­nem Gar­ten in St.Peter. Auf­nah­me aus dem Jah­re 1970.

In die­sem Gar­ten sah ich mei­nen Vater immer nur wer­ken. Nie war die Zeit vor­han­den, in die­sem Para­dies Frei­zeit zu ver­le­ben. Hin und wie­der blieb gera­de noch Zeit, um irgend­was zu essen. Bei der Viel­zahl an Obst und Gemü­se ein Leich­tes. Unse­re Mägen hat­ten da nie irgend­wel­che Pro­ble­me. Im Gegen­teil. Man­ches­mal hat­te ich sogar zuviel von den herz­haf­ten Herz­kir­schen oder den süßen Rin­glot­ten. Ein­mal – als ich mich gera­de den Rin­glot­ten wid­me­te – sag­te mir mein Vater so neben­bei und in einem so gar nicht ernst gemein­tem Ton – dass dies hier alles Grund­la­ge sei­ner vier­ten Exis­tenz sei, dass der Mili­tär­dienst und die zwei Welt­krie­ge, abge­se­hen von den Wirt­schafts­kri­sen, ihn immer wie­der gezwun­gen hät­ten, von Vor­ne, von Null anzu­fan­gen, das heißt es waren ja nicht die Ereig­nis­se selbst, eher waren es jene, wel­che Zie­le ver­folg­ten, die das gemei­ne Volk sowie­so nicht ver­stan­den hat­te oder hät­te. Man tat ja brav das, was man da Oben von Einem erwar­te­te. Mei­ne Mut­ter hat­te davon nie gere­det. Es war für alle, die die­se Zei­ten über­lebt hat­ten, anschei­nend selbst­ver­ständ­lich. Das Über­le­ben und das von Vor­ne begin­nen. Und natür­lich hat sich die Mehr­heit Gedan­ken gemacht, teil­wei­se sogar sehr laut und groß­teils haben sie auch gelernt. Das moch­ten zwar eini­ge weni­ge nicht, aber es blieb ihnen nichts ande­res übrig als letzt­end­lich ein­fach zu akzep­tie­ren.
In der Daten­bank der öster­rei­chi­schen Natio­nal­bank gibts einen Ein­trag über mei­nen Vater. Offen­sicht­lich aus sei­ner aller­ers­ten Exis­tenz. Der Ein­trag stammt aus dem “Gra­zer Tag­blatt” vom 15. Sep­tem­ber 1910 und weist aus, dass mein Vater den 3.Landespreis erhal­ten hat, als stei­ri­scher Viehzüchter.

Eintrag im "Grazer Tagblatt"
Das war immer­hin der drit­te Preis in einem lan­des­wei­ten Wett­be­werb. Wäre ein schö­ner Beginn gewesen.

Aus mei­ner per­sön­li­chen Start­Up-Exis­tenz als Schü­ler stammt auch jenes Andenken, das sich buch­stäb­lich in mir fest­ge­fres­sen hat. Es ist ein Andenken an St.Peter, an den Gar­ten, und allem, was sich damit ver­bin­det. Direkt unter mei­ner lin­ken Knie­schei­be. Für immer. Ein Andenken an das Holz­ha­cken. Das erle­dig­te immer ich, als ich schon groß genug war, dies ohne Pro­ble­me zu tun. Ja, ich konn­te schon mit einer Hacke umge­hen. Also setz­te ich mich auf mein Rad und radel­te in den Gar­ten. Dort ange­kom­men, hack­te ich einen gan­zen Nach­mit­tag lang. Jede Men­ge Holz. Als es schon däm­mer­te und ich müde wur­de, zu müde wie man anneh­men kann, begann ich die Hacke in der Gar­ten­hüt­te zu ver­stau­en, Hüt­te und Gar­ten abzu­sper­ren, mich auf mein Rad zu set­zen und nach Hau­se zu radeln. Ich radel­te kei­ne fünf­hun­dert Meter, als ich zu mei­nem lin­ken Knie grei­fen muss­te, ich fühl­te da näm­lich etwas Nas­ses, Feuch­tes. Nichts Beun­ru­hi­gen­des, nur etwas Läs­ti­ges. Ganz leicht begann es mich auch in die­ser Gegend zu kit­zeln, zu krib­beln. Also griff ich dahin, ohne zu schau­en. Nur um zu füh­len, was dies wohl sei, und um die­ses kit­zeln­de, feuch­te Ding da, weg­zu­ja­gen, falls es sich weg­ja­gen lie­ße. Schau­en konn­te ich ja immer noch. Jetzt woll­te ich so rasch als mög­lich nach Hau­se. Es ließ sich nicht weg­ja­gen, es kit­zel­te und krib­bel­te stär­ker. Ich ent­schloss mich, doch da hin­un­ter zu schau­en, wäh­rend ich wei­ter­ra­del­te. Nicht mehr lan­ge. Denn was ich da sah, ver­an­lass­te mich, sofort anzu­hal­ten. Da war ein rotes Rinn­sal zu sehen, mei­nen gan­zen lan­gen Unter­schen­kel ent­lang, über und durch mei­nen Socken in den Schuh, von dem es schon auf die Stras­se tropf­te und sich zu einer rich­ti­gen Blut­spur form­te. Mir blieb bei­na­he das Herz ste­hen. Ich griff zu mei­nem all­ge­gen­wär­ti­gen Taschen­tuch – “feh” gabs ja damals glück­li­cher­wei­se noch nicht – und ver­such­te mein lin­kes Knie abzu­bin­den. Das gelang mir auch irgend­wie, bes­ser schlecht als recht. So setz­te ich mich wie­der aufs Rad und fuhr wei­ter, ange­trie­ben nur durch mein rech­tes Pedal. Das lin­ke Bein hielt ich mög­lichst weg vom Rad. Ein groß­ar­ti­ges Bild. Ich fuhr als Ein­bei­ni­ger durch St.Peter, die St.Peter-Hauptstraße bis zur Stey­rer­gas­se. Mei­nen rech­ten Fuß, mein gan­zes rech­tes Bein spür­te ich schon fast nicht mehr. Vom lin­ken abge­bun­de­nen Bein will ich gar nichts schrei­ben. End­lich war ich im obers­ten Teil der Stey­rer­gas­se ange­kom­men, da gings ohne Anstren­gung steil berg­ab, drü­ber über die Münz­gra­ben­stras­se und end­lich war ich zu Hau­se ange­kom­men. Ich lehn­te mein Fahr­rad an die Haus­mau­er, hum­pel­te zur Woh­nungs­tür, läu­te­te Sturm, erklär­te in kur­zen Wor­ten, war­um, wie­so und schon stürm­te mei­ne Mut­ter davon, irgend­wo­hin ins Haus, mein Vater mach­te eben­falls irgend­was. Da stand dann mei­ne Mut­ter mit Frau Gärt­ner aus dem Vier­ten Stock neben mir. Sie war im Krieg bei der Sani­täts­trup­pe hat­te man mir ein­mal gesagt. Ich ver­stand nur das Wort “Arni­ka-Tink­tur”. Dann spür­te ich die­se Tink­tur schon über mei­ne Wun­de bren­nen. Ich hör­te nur die Ent­schei­dung zwi­schen “Spit­tal fah­ren” und “Nähen” oder “Ban­da­gie­ren” und “wil­des Fleisch”. Was ist das schon gegen “Nähen”. Ich blieb zu Hau­se, bei Arni­ka und Ban­da­gen. Arni­ka ver­band sich mit Bad Mit­tern­dorf. Und Frau Gärt­ner mit Wil­fried oder Win­fried, den von den “Blu­ti­gen Fünf”. Da war die Con­nec­tion wie­der. Es gab da noch eine. Frau Gärt­ner arbei­te­te nicht weit von uns bei der Dru­cke­rei Ley­kam. Die druck­te damals gera­de ein Buch über die Bestei­gung des Nan­ga Par­bat. Und der Sher­pa von Sir Edmund Hil­la­ry, Ten­sing Nor­gay weil­te aus die­sem Grun­de in Graz und besuch­te Ley­kam, um zu sehen wie ein Buch in unse­ren Brei­ten ent­steht. Frau Gärt­ner nahm mich mit, um mir einen Mit­men­schen aus Asi­en, aus dem unbe­kann­ten Nepal, aus dem Umfeld des Nan­ga Par­bat, zu zei­gen. Ich stand also neben der Maschi­ne – ich weiß bis heu­te nicht, wel­che – und starr­te auf den Sher­pa und sei­ne exo­ti­sche Tracht. Sein Name und Nepal und Nan­ga Par­bat präg­ten sich ein. Ich bekam auch ein Buch mit Auto­gra­phen. Es war eine Unmen­ge an Leu­ten neben ihm. Das bun­te Bild des Sher­pa ist geblie­ben, das Buch ist ver­schwun­den. Wie gut, dass die Welt in der Zwi­schen­zeit digi­ta­li­siert wor­den ist.

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