Bierwurstsemmeln

Mit der Volks­schu­le trat ich in das leder­ho­sen­freie Zeit­al­ter ein. Da hat­te man die Ver­pflich­tung der gan­zen Welt Kund zu tun, dass man nun allen Erns­tes Lesen und Schrei­ben erlern­te. Und auch ein wenig Rech­nen. Durch das Tra­gen etwa von “Kni­cker­bo­ckern” tat man dies. Der Hosen­ab­schluss unter­halb der Knie soll­te dabei mög­lichst bau­chig sein. War­um, wie­so konn­te mir nie­mand beant­wor­ten, auch nicht war­um die­se Hose so hieß, wie sie hieß. Alle Bein­klei­der waren ab die­sem Zeit­punkt Stoff-Bein­klei­der. Viel, viel spä­ter hör­te ich erst­mals den Begriff “Knie­bund­ho­se”. Die­ser war natür­lich sofort und rasch begreif­bar. Das war eine Hose mit dem Bund knapp unter dem Knie. Klar. Das pas­sen­de Schuh­werk dazu ließ man sich vom Schus­ter anfer­ti­gen. Damals befand sich nach jeder Stras­sen-Kreu­zung min­des­tens einer, der die­se stol­ze Hand­werks­kunst reprä­sen­tier­te. Ich roch die Luft, die es in die­sen Geschäfts­räu­men hat­te, genuss­voll gern. Ich atme­te Leder und Schus­ter­leim und ein bischen Pech. Das währ­te aller­dings nur ein paar weni­ge Jähr­chen. Mit dem Beginn der nächs­ten Pha­se, mit dem Abschluss der Volks­schu­le und dem Bestehen der soge­nann­ten “Auf­nah­me­prü­fung” durf­te ich mich ja bereits als “Mit­tel­schü­ler” füh­len. Acht lan­ge Jah­re. In die­se Zeit fiel ein Mei­len­stein für die Ent­wick­lung der gesam­ten Mensch­heit. Damals war das alles nicht so auf­fäl­lig, es schien ein Spiel zu sein, zumin­dest für die meis­ten älte­ren bis mit­te­läl­te­ren Gene­ra­tio­nen. Für mich bedeu­te­te es eine Art “Befrei­ung”. Befrei­ung einer gan­zen Rei­he von Ein­schrän­kun­gen bis hin zu Begren­zun­gen. Begon­nen hat der Umbruch beim The­ma “Beklei­dung”. Das Zeit­al­ter der “Blau­en Blud­schien-Hosen” war ange­bro­chen! Begon­nen hat in Graz der “Brühl” in der Schmied­gas­se. Der “Brühl” hat die blau­en Hosen als Ers­ter impor­tiert, so ich mich rich­tig erin­ne­re. Natür­lich kamen sie aus “Ame­ri­ka”, woher sie auch immer tat­säch­lich kamen. Alles was damals jung war ström­te in die Schmied­gas­se, um sich eine “Blud­schien” zu holen. Hat­te man sie erwor­ben, zwäng­te man sich sofort hin­ein und leg­te sich – so man eine sol­che hat­te – in die Bade­wan­ne und ließ das Was­ser lau­fen – das Bade­was­ser. Haut­eng muss­te die “Blud­schien” sein! Alles ande­re wan­der­te in den dun­kels­ten Win­kel des Klei­der­schranks und wur­de höchs­tens her­aus­ge­holt zu hoch­of­fi­zi­el­len Anläs­sen oder zu alter­tüm­li­chen Fami­li­en­fes­ten. Weg mit Hem­den und Kra­wat­ten und Stoff-Hosen. “Blud­schien” aus Blud­schien-Stoff, das war “In”! Bei und zu allen Gele­gen­hei­ten: Jeans! Die rich­ti­ge Bezeich­nung hat­te sich unter uns Jugend­li­chen bald her­um­ge­spro­chen. Die Begriff­lich­keit selbst kam erst, als es “Wiki­pe­dia” gab, aber auch das ist ein ande­res Kapi­tel. Ein Fort-Geschrit­te­ne­res. Natür­lich hat es mit Pho­ne­tik zu tun, mit der pho­ne­ti­schen Ent­wick­lung. So wie der Name “Wean” und “Vien­ne” oder “Vien­na”. Wir befan­den uns auf dem Weg zum “halb gar wer­den”, auf dem Wege einer Zukunft, die wir uns erst im Traum ent­war­fen auf der Tat­sa­che von real exis­tie­ren­den Ent­wick­lun­gen, die zunächst ein­mal und offen­sicht­lich nichts mit­ein­an­der zu tun hat­ten.
Offen­sicht­lich nichts damit zu tun hat­te ein wei­te­res Ereig­nis eini­ge Jah­re spä­ter. Über den obli­ga­to­ri­schen Jeans trug ich die halb­wegs wei­ße Schür­ze des Zugs­buf­fet­manns. Ansons­ten gab es damals kei­ner­lei ande­re Beklei­dungs­vor­schrif­ten. Bis auf die umfang­rei­chen Brief­ta­schen, klar, die schau­ten wir uns von den Kell­nern ab. So ging es immer hin und her und her und hin zwi­schen Graz und Selz­thal und Linz und Selz­thal und Graz. Pen­deln. Immer hin und her. Her und hin. Und wenn ich noch so gern mit der Eisen­bahn unter­wegs war, nach Kur­zem woll­te ich nicht mehr. Geeig­net für die­sen Job waren nur Weni­ge. Die Meis­ten hiel­ten nur kurz durch. Mir ging es genau­so. Ich war den gan­zen Tag mit der Eisen­bahn unter­wegs – inklu­si­ve Abend. Zu nichts ande­rem war ich mehr fähig als dafür. An Tätig­kei­ten für die Aka­de­mie war nicht zu den­ken, geschwei­ge denn an Pro­ben fürs Thea­ter, oder gar an Auf­füh­run­gen. Wurst­sem­meln und Bier und Limo­na­den in fah­ren­den Zügen konn­te man nur haupt­be­ruf­lich an den Pas­sa­gier brin­gen. Zur dama­li­gen Zeit war das ein Job für sehr zwei­fel­haf­te Exis­ten­zen, wie ich sehr bald bemerk­te. Trotz aller Tricks und Ideen war das Ergeb­nis als Stu­di­en-Zuschuss eher lächer­lich. War ich am einen Ende des Zuges, mach­te ich kehr-um und wur­mel­te zum ande­ren Ende, macht eine kur­ze Pau­se beim Buf­fet-Mini-Abteil, füllt die Bestän­de mei­ner Tra­ge auf und wur­mel­te wei­ter. “Bier, Wurst­sem­meln, Limo­na­den!” so lau­te­te der ewi­ge Ruf nach hung­ri­gen Mägen oder durs­ti­gen See­len. Und ins­ge­heim folg­te der stil­le Zusatz “Kauf­ts ma do a gont­ze Men­ge ob! Vü! Vü!!” (Kauft mir doch eine gan­ze Men­ge ab! Viel! Viel!). Getrun­ken wur­de schon ziem­lich viel. Für so man­chen wur­de es zuviel. Natür­lich hing das von der Fahrt­stre­cke ab. Von Graz nach Linz waren das schon eini­ge Fläsch­chen und ein län­ge­res Schläf­chen zwi­schen­durch. Da gab es auch wel­che, die waren für die Tun­nel­stre­cken sehr dank­bar. In den kür­ze­ren Tun­nels kipp­ten sie ganz ein­fach weg. Da wur­de es näm­lich stock­fins­ter.
Man­che waren gries­grä­mig, man­che hei­ter, man­che sogar lus­tig. Aggres­sio­nen habe ich nie erlebt. Kon­zen­trie­ren muss­te man sich auf das emp­fan­ge­ne Geld und auch auf das Wech­sel­geld – dar­an aller­dings war ich ja schon von Klein auf gewöhnt und gewohnt. Ich hat­te dabei auch nie Schwie­rig­kei­ten. Ich muss noch ein­mal dar­auf hin­wei­sen: Bier­wurst­sem­meln genos­sen aus­schließ­lich männ­li­che Män­ner, Limo­na­den­wurst­sem­meln Frau­en und die nur sehr sel­ten. Vie­le hat­ten ihre Jau­se ganz ein­fach mit­ge­bracht. Speck oder Land­jä­ger oder wel­che-Wurst-auch-immer oder Küm­mel­bra­ten und Brot, dazu lie­fer­ten wir das bei­na­he zwangs­neu­ro­ti­sche Bier. In man­chen Bahn­hö­fen, wie zum Bei­spiel in Selz­thal selbst – die Hei­mat der Zugs­buf­fet­män­ner – gabs sogar ech­te “Würs­tel-Män­ner”. Die fuh­ren mit ihren klei­nen Frank­fur­ter-Würs­tel-Kano­nen, ent­lang der ankom­men­den Züge und ver­kauf­ten wäh­rend der Auf­ent­hal­te so vie­le Würs­tel inklu­si­ve Kai­ser-Sem­mel wie es halt ging, bis zur Abfahrt des Zuges. Alle jene, die ohne war­mes Würs­tel aus­kom­men muss­ten, lie­ßen sich dann halt über uns ver­sor­gen. Am jewei­li­gen End-Bahn­hof sam­mel­ten wir eif­rig die geleer­ten Bier­fla­schen ein, das brach­te immer­hin einen zusätz­li­chen Schil­ling pro Fla­sche! “Schil­ling” war die öster­rei­chi­sche Nach­kriegs-Wäh­rung. Die­ser Schil­ling war aber sowie­so im Kauf­preis der vol­len Fla­sche inklu­diert, war also dop­pelt gemop­pelt. Auf der lan­gen Fahrt lep­per­te es sich aller­dings. Das Geld. Lang- und müh­sam. Als “Zubrot” zum Sti­pen­di­um war die­se Art unge­eig­net, das stell­te sich schon nach kur­zer Zeit her­aus. Cate­ring mit und in den Zügen war und ist etwas Unge­lieb­tes. In unse­ren Brei­ten hat das etwas zu tun mit der Logik der alten Kriegs­wirt­schaf­ten. Die­ser Logik muss­te der Auf­bau der Bahn-Net­ze ja fol­gen. Mit den aus dama­li­ger Sicht drin­gend erfor­der­li­chen Ver­kehrs­kno­ten­punk­ten. Eiser­ne Bah­nen hiel­ten sich, eben eisern. Fle­xi­ble Mobi­li­tät gab es nur auf dem Meer und sonst nir­gend­wo – damals. Von A nach B wur­den die Stre­cken gebaut. Eisern. Für die Ewig­keit. Aus­schließ­lich zur Nut­zung durch die Wirt­schaft. Und aus­schließ­lich zur Nut­zung eiser­ner Züge. Exklu­siv. Die Welt wird sich nach ihnen rich­ten, was in ihr und auf ihr auch immer geschieht. Die Mensch­heit bringt alles auf Schie­ne. Auf zwei Schie­nen, um prä­zi­se zu sein.

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