Der Dachboden

Der Dach­bo­den im 4. und 5. “Stock” der Stey­rer­gas­se 69 in Graz – ein Dach­bo­den vol­ler Geheim­nis­se in die­sen Jah­ren. In zwei Eta­gen erstreck­ten sich die Geheim­nis­se. Eine fes­te Eisen­tü­re hielt den Zugang ver­schlos­sen. Rechts davon eine Ein-Zim­mer-Woh­nung, den Begriff “Gar­con­nie­re” kann­ten wir noch nicht. Links davon eine Zwei-Zim­mer-Woh­nung mit Bal­kon! Zwi­schen die­sen bei­den Woh­nun­gen befand sich die gemein­sa­me Toi­let­te. Geöff­net wur­de der Dach­bo­den nur zum Auf­hän­gen der in der Kel­ler-Wasch­kü­che gewa­sche­nen Wäsche – falls das Wet­ter das Trock­nen der Wäsche im Frei­en, im soge­nann­ten “Hof” nicht zuge­las­sen hat­te. Dann muss­te man die frisch gewa­sche­ne, schwe­re, feuch­te Wäsche die­se vier Stock­wer­ke hin­auf­tra­gen und im “Boden” erst zum Trock­nen auf­hän­gen. Heu­te wird das gan­ze Ver­fah­ren durch Wäsche­trock­ner in der Woh­nung abge­kürzt und erle­digt. Die Rauch­fang­keh­rer for­der­ten den Zugang um die Kami­ne zu “put­zen”. Dann hör­ten und fühl­ten wir die Kugeln an die Kamin­wän­de schla­gen. Ich spiel­te mit mir sel­ber das Rate-Spiel “In wel­chem Stock schlägt die Kugel jetzt”. Die Kami­ne waren zwi­schen Küche und Schlaf­zim­mer geführt. Ich hat­te also immer den tota­len Über­blick. Wir Kin­der fan­den den begehr­ten und heim­li­chen Boden-Ein­tritt also ent­we­der über irgend­wel­che Haus­frau­en oder über sons­ti­ge Per­so­nen die ver­ges­sen hat­ten, den furcht­erre­gend gro­ßen Schlüs­sel abzu­zie­hen. Dann ver­stän­dig­ten wir uns mit stil­len Hand­zei­chen unter­ein­an­der und ver­schlan­gen, was es zu lesen oder anzu­schau­en gab: Zeit­schrif­ten, Bücher, Pro­pa­gan­da-Maga­zi­ne und sons­ti­ge Druck­wer­ke aus WKI und WKII. Nie­mand der Erwach­se­nen woll­te damit etwas zu tun haben und das alles weg­räu­men oder ent­fer­nen. Das wuss­ten wir. Es hat­te sich tief in unser Ver­hal­ten ein­ge­prägt. Und natür­lich waren wir schon vor- und früh­zei­tig dabei, die Schrift­zei­chen zu ent­zif­fern, um auch die Bild­un­ter­schrif­ten lesen zu kön­nen. Wie schon beschrie­ben, ich habe mich bei Karl May dies­be­züg­lich zu bedanken.

Mit­ten unter dem Wust aus bedruck­tem Papier lagen auch ein paar fürch­ter­lich schwe­re Pan­zer-Antriebs­rä­der. Wem die­se gehör­ten stell­te sich erst her­aus, als der soge­nann­te “Besit­zer” vom Stie­gen­haus­fens­ter des 4.Stocks ein lang­ge­zo­ge­nes “Aaachchch­tung” erschal­len ließ, auf wel­ches dann jeweils ein fast explo­si­ons­ar­ti­ges, dump­fes Auf­schlags­ge­räusch folg­te. Das Gan­ze wie­der­hol­te sich vier oder fünf Male. Und hin­ter­ließ übri­gens auch noch ernst zu neh­men­de Schä­den am Belag unse­res “Hofes”, der ja gleich­zei­tig unser Spiel­raum gewe­sen war. Das ein­fa­che “Run­ter­wer­fen” die­ser Räder war sehr ein­drucks­voll, das Kopf­schüt­teln der Erwach­se­nen sorg­te für Nach­hal­tig­keit. Abtrans­por­tiert wur­den die Räder dann mit­hil­fe eines schweiß­nas­sen Assis­ten­ten und eines LKW. Irgend­wo­hin. Alt­me­tall war damals sehr begehrt. Das Abtrans­por­tie­ren rief bei uns Kin­dern erst das Antrans­por­tie­ren ins Bewusst­sein: “Wie hat denn der die Räder über­haupt da rauf – in den Dach­bo­den – gebracht? Ganz allein, still und heim­lich? Und wann, in der Nacht? Unter wes­sen Augen? Denen der Rus­sen? Ganz sicher nicht. Denen der Eng­län­der? Noch weni­ger wahr­schein­lich. Also der­je­ni­gen, die sich gera­de noch als “Deut­sche” titu­lie­ren lie­ßen? Aller Vor­aus­sicht nach die Wahr­schein­lichs­te aller Mög­lich­kei­ten.
Viel begehr­ter – bei uns Jung­bu­ben – war der alte deut­sche Gene­ral Paul von Hin­den­burg, ein Herr Luden­dorff, die Fahr­ten deut­scher Kreu­zer über Pazi­fik und Atlan­tik. Die angeb­li­chen mili­tä­ri­schen Erleb­nis­se in Tsingtau, Samoa und weiß der Dings­da wo noch… Die stol­zen Erleb­nis­se der “Emden” sind mir immer noch irgend­wo im Hin­ter­stüb­chen, oder die Aben­teu­er der U‑Bootkommandanten, die viel­zi­tier­ten Pri­sen­kom­man­den der deut­schen Han­dels­schif­fe, allen vor­an ein Herr Graf Luck­ner – mit gro­ßem Eifer such­ten wir nach “Uns­ri­gen”, nach Öster­rei­chern, nach der Mon­ar­chie, nach Con­rad von Höt­zen­dorf – die­ser Herr war uns ja wegen der Stra­ßen­be­zeich­nung in unse­rer Nähe geläu­fig – , fan­den aber nichts Nen­nens­wer­tes. Alles war über­strahlt von einem deut­schen Kai­ser, von einem “Reichs­füh­rer” des­sen Namen man lie­ber nicht mehr aus­spre­chen soll­te, von Aus­ga­ben des “Sim­pli­cis­si­mus”, von den angeb­li­chen deut­schen Opfern an der Gren­ze zu Polen. Die Auf­nah­men hat­ten offen­sicht­lich den Zweck Feu­er zu schü­ren und sich die Hän­de zu rei­ben, waren auch durch­aus ent­setz­lich und grau­en­haft. Lei­chen und geschun­de­ne Tote sah man nur auf dem Dach­bo­den unse­res Hau­ses, nir­gend­wo anders. Wir waren gefes­selt. Allei­ne getrau­te man sich da nicht drü­ber. Zu zweit ging es so halb­wegs. Wir waren still und blie­ben es jeden­falls, je nach Schwe­re des Bild­ma­te­ri­als, bis Stun­den nach einer sol­chen “Kon­su­ma­ti­on”. Jeden­falls taten die Bil­der Kund, was man damals als Öffent­lich­keits­ar­beit bezeich­net hat – sehr viel hat sich ja nicht geän­dert. Irgend­wo war das, was wir gese­hen und gele­sen hat­ten, absto­ßend und abscheu­lich. Und wir haben uns gefragt, ob die Welt, die da unauf­hör­lich immer näher kam, wirk­lich so ist oder war oder in wel­chem Sinn sie sich ändern wird oder geän­dert wer­den will oder unter wel­chen Bedin­gun­gen sie anders wer­den wird.
Ja, da habe ich viel, sehr viel erlebt und erfah­ren, von der bein­har­ten in vie­ler­lei Hin­sicht blas­phe­mi­schen Lüge bis hin zu den mit den Jah­ren immer deut­li­cher wer­den­den “Wahr­hei­ten” und Zusam­men­hän­gen der Gegen­wart. Ich habe jene ken­nen ler­nen müs­sen, die von den hohen Höhen, wo sie noch ganz laut ihre Mei­nung kund­ta­ten, immer stil­ler wur­den bis hin zur Ver­öf­fent­li­chung abschlie­ßen­der nichts­sa­gen­der soge­nann­ter “Wer­ke”. Wenn sie die­se über­haupt mit den eige­nen Fin­gern in die Tas­ta­tur geklopft hat­ten.
Sie wur­den jeden­falls zwi­schen­zeit­lich abge­löst von der Geschichts­schrei­bung ande­rer Insti­tu­tio­nen, auch ande­rer Natio­nen wenn über­haupt und ande­rer His­to­ri­ker. Es tauch­ten ganz ande­re Zusam­men­hän­ge auf, ande­re Welt­sich­ten – ande­re Weit­sich­ten.
Ich hat­te in die­sen Jah­ren bereits zur Kennt­nis genom­men, nichts Kon­kre­tes gefragt zu wer­den – mit Aus­nah­me der schu­li­schen, der päd­ago­gi­schen Berei­che. Ich hat­te erfah­ren, dass hin­ter dem Rücken meist ganz anders gere­det wur­de. Bis auf Einen, der mir tat­säch­lich eine ganz kon­kre­te Fra­ge gestellt hat. Am Tag des Begräb­nis­ses von Franz Robert Bil­li­sich, eines mei­ner und mir gegen­über wirk­lich auf­rich­ti­gen Freun­de. Es war Char­ly, ehe­ma­li­ger Innen­mi­nis­ter Öster­reichs. Er war der Ein­zi­ge, der eine Fra­ge ganz ein­fach und direkt gestellt und mir dabei ganz offen und ohne Vor­be­hal­te in die Augen geblickt hat.

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