Der Milchkontrollor

Da drau­ßen in den ver­schie­de­nen Dör­fern oder in der Nähe von den Milch-Sam­mel­stel­len hat­ten man­che der län­ger die­nen­den Kon­trol­lo­re ihre Freun­din­nen. Und nach­dem das ja damals ein­deu­tig ein Män­ner­be­ruf war, geht ja die Dop­pel­deu­tig­keit der gan­zen Ange­le­gen­heit schon aus der Berufs­be­zeich­nung her­vor: Milch-Labo­rant. Da labo­rier­te jemand an der Milch. Wir blö­del­ten wäh­rend der Fahrt zur Arbeits­stät­te, mal­ten uns aus, wer da wie labo­rier­te, fan­ta­sier­ten, jux­ten und feix­ten. Wir hat­ten jeden­falls unse­ren Spaß. Wir waren alle zusam­men “freie Mit­ar­bei­ter” beim Milch­hof Graz und muss­ten uns täg­lich um 04:00 Uhr früh dort ein­fin­den, um von einem Klein­bus bei wel­chem Wet­ter auch immer über das Ein­zugs­ge­biet unse­res Milch­ho­fes ver­teilt zu wer­den. Die Rück­kehr erfolg­te dann so um 09:00 Uhr. Dafür gab es dann am Ende eines Monats Geld. Bares Geld. Zum Sti­pen­di­um war das ein will­kom­me­nes Zubrot. Es war zwar ziem­lich hart, aber wir stan­den es schon durch: Um etwa 23:00 Uhr kamen wir vom Thea­ter, dem Schau­spiel- oder Opern­haus, nach Hau­se, leg­ten uns ein paar Stun­den nie­der, stan­den so zwi­schen 02:00 Uhr und 02:30 Uhr früh rasch auf, lie­fen quer durch Graz zu unse­rem Milch­hof – Stra­ßen­bahn oder ande­re öffent­li­che Ver­kehrs­mit­tel lagen damals noch im Schlaf der tiefs­ten Tie­fen – , arbei­te­ten unse­ren Labo­ran­ten-Job ab, fuh­ren dann nach Wie­der­kunft mit den bereits erwach­ten “Öffis” nach Hau­se und leg­ten uns kurz noch nie­der. Es sei denn, wir hat­ten gleich nach unse­rer Rück­kehr noch Vor­le­sun­gen, Unter­richt oder irgend­et­was zu erle­di­gen, was mit unse­rem zukünf­ti­gen Beruf in Ver­bin­dung stand.
Anfangs hat­ten wir ein gro­ßes win­ter­li­ches Pro­blem: Heiz­ele­men­te für klamm gewor­de­ne Fin­ger waren noch in wei­ter, wei­ter Fer­ne. Aus die­sem Grun­de gab es eine ein­fa­che win­ter­li­che Regel, wel­che wir von unse­ren erfah­re­nen, älte­ren Kol­le­gen dank­bar über­nom­men hat­ten: Erst öff­ne­ten wir eine der gro­ßen Kan­nen mit der Abend­milch, dann kam die Kan­ne mit der noch war­men Mor­gen­milch, dann kam wie­der eine Kan­ne mit kal­ter Abend­milch und so wei­ter. Das war unse­re Hei­zung. So ver­mie­den wir, dass die Käl­te in unse­re Fin­ger kroch und unse­re Hän­de am kal­ten Metall der Hand­pum­pen kle­ben blie­ben. Unser Auf­ga­ben­be­reich war die Kon­trol­le der Milch auf Fett- und Ver­schmut­zungs-Grad. Das war auch drin­gend nötig damals. So cir­ca 35–40% der ange­lie­fer­ten Milch war zunächst nur rein optisch als unzu­rei­chend zu bewer­ten und da kamen dann noch unse­re Fil­ter und unse­re Pum­pen ins Spiel! Da schwamm alles Mög­li­che, manch­mal auch Unmög­li­che, in der Milch her­um, bes­ser beschrie­ben: umher! Abge­se­hen vom Kuh­mist. Die Mehr­zahl der Stäl­le war damals noch ohne elek­tri­schen Strom, da konn­te sowas schon pas­sie­ren. Gemol­ken wur­de ja manu­ell. Da gabs dann Abzü­ge, bis hin zur tota­len Ableh­nung. Nur gro­ße Bau­ern mit ent­spre­chend gro­ßen Stäl­len hat­ten die Boni­tät zur Anschaf­fung von auto­ma­ti­sier­ten Melk­ma­schi­nen, Fut­ter­si­los et cete­ra. Wir ver­dien­ten unser Geld zwar hart, aber es mach­te Spaß hin­ter die Kulis­sen schau­en zu dür­fen. Wir hat­ten ja auch viel zu erler­nen. Noch dazu war die Milch vom Milch­hof Graz Teil des Ange­bots mei­ner Eltern im Lebens­mit­tel­han­del. Sie waren ja gesetz­lich ver­pflich­tet jeden Sonn­tag ein­ein­halb Stun­den lang die Bevöl­ke­rung mit genieß­ba­rer Milch zu ver­sor­gen. Je nach Wahl­aus­gang ver­än­der­te sich auch die Län­ge die­ser zusätz­li­chen Pflicht-Dienst­leis­tung. Man­ches mal war es nur eine hal­be Stun­de, was uns Kin­der natür­lich beson­ders freu­te. Wir hat­ten ja auch die Milch jeder­zeit abruf­bar zu Hau­se. Noch dazu im gro­ßen Eis­schrank. Das Eis wur­de som­mers­über immer von mei­nem Vater und selbst­ver­ständ­lich auch von mir nach­ge­füllt. Per Fahr­rad. Vom Gra­zer Eis­werk. Sehr ein­drucks­voll. Da fuh­ren Krä­ne mit Eis­blö­cken hin und her. Es roch nach Ammo­ni­ak und Stick­stoff – so sag­te man uns. Es war ein stän­di­ges Kom­men und Gehen, stän­di­ge Nach­fra­ge nach Eis­blö­cken. Da kamen Män­ner mit Haken in dick behand­schuh­ten Hän­den und ver­frach­te­ten die Eis­blö­cke auf unse­re Räder. Wir deck­ten sie mit gro­bem Jute oder Sack­lei­nen ab, ban­den sie fest und fuh­ren wie­der los. Ins Geschäft. Zu Zei­ten mei­ner Milch-Labo­ran­ten­tä­tig­keit hat­ten wir selbst­ver­ständ­lich bereits einen elek­tri­schen “Fri­gid­ai­re”! Das war dann das Ende des Eis­werks. Die fros­ti­gen Män­ner muss­ten sich um einen ande­ren Job umse­hen. AMS – Arbeits­markt­ser­vice – gabs ja noch nicht. Außer­dem war es eine Schan­de, arbeits­los zu sein. Die meis­ten sof­fen sich nach ein paar Wochen nie­der und glit­ten ab in die sozi­als­ten Nie­de­run­gen. Es küm­mer­te sich kaum jemand um sie, um die Arbeits­lo­sen. Arbeits­los zu sein, hieß pfu­sch­reich zu sein. Und die­sem Pfusch ver­dankt die­ses Land bei­na­he alles. Es tut mir wirk­lich leid, dass es nie­man­den gibt, der die­sem Pfusch ein uni­ver­si­tä­res Denk­mal set­zen möch­te. Ich allein schaff es lei­der nicht mehr. Ande­rer­seits: Wer sieht sich schon ger­ne selbst im Spie­gel?
Zu Zei­ten mei­ner Milch-Labo­ran­ten­tä­tig­keit hat es noch rich­ti­ge, kal­te und schnee­rei­che Win­ter gege­ben. Am Land fuh­ren damals noch selbst­ge­bas­tel­te Schnee­pflü­ge. In Form eines rie­si­gen Geo-Drei­ecks, gezo­gen von alten Trak­to­ren oder Kühen, Och­sen oder Arbeits­pfer­den. Manch­mal muss­ten wir die letz­ten paar Meter oder Kilo­me­ter auch durch tie­fen Schnee stap­fen, bis zur Sam­mel­stel­le. Was rou­ti­nier­te, gut infor­mier­te, älte­re Kol­le­gen mit “Über­nach­tun­gen” am Ort der Labo­ran­ten-Tätig­keit umgin­gen. Sie fuh­ren mit den “Öffis” an den Ort der Hand­lung, gönn­ten sich eine hei­ße Nacht, sam­mel­ten und prüf­ten die dor­ti­ge Milch und lie­ßen sich mit dem Klein­bus zurück­brin­gen.
Ein­mal im Win­ter war es beson­ders kalt und es schnei­te und die Milch-Bau­ern woll­ten nicht kom­men, waren ein­ge­schneit und ich war­te­te und war­te­te. Um nicht ein­zu­frie­ren lief ich durch den knir­schen­den Schnee. Hin und Her. Da wur­de es in einem der umlie­gen­den Häu­ser unterm Gie­bel Licht. Das Fens­ter ging auf. “Geh, kumm auf­fa! Bei mia is schee woam” (Geh, komm her­auf, bei mir ist es schön warm!) gurr­te da ein ver­füh­re­ri­sches Täub­chen. In dem hell­erleuch­te­ten Fens­ter eröff­ne­te sich ein pral­ler, lust­vol­ler Bal­kon. “Is eh ouf­fn untn” (Ist eh offen unten – gemeint war die Ein­gangs­tür). Die paar Milch-Bau­ern, die dem Wet­ter zum Trotz spä­ter als üblich zur Sam­mel­stel­le gefun­den hat­ten, muss­ten dies­mal war­ten. Die War­te-Zeit hat­ten sie ja sicher auch genutzt. Sie hat­ten ja wie­der was zu reden mit­ein­an­der. Täub­chen und ich hat­ten gesorgt dafür. So kann es auch im käl­tes­ten Win­ter recht heiß und atem­los wer­den. Die anschlie­ßen­de Labo­ran­ten-Prü­fung fiel zwar recht kurz aber den­noch nach allen Regeln und Vor­schrif­ten aus. Unser bewähr­ter Kan­nen-Wech­sel zum Auf­wär­men der Fin­ger erüb­rig­te sich in die­sem Fall.

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