Im Verhältnis zu den nunmehr über 75 Jahren war die märchenhafte Zeit in Kärnten nur kurz. Aber sie war die tollste Epoche, eine Phase in der es rund ging und niemand etwas gegen das “Runde” hatte. Im Gegenteil, man machte mit, man lebte, man lachte, man arbeitete. Man empfand “Arbeit” gar nicht als Beschäftigung, als etwas was man tun musste. “Arbeit” war Herausforderung, nicht nur für mich. Und aus diesem Tun entstand intensives Leben. In jenen zumindest mit denen ich mich umgab oder die sich von mir umgeben ließen oder in deren Kreise ich einbezogen worden bin. Wir lebten miteinander und füreinander. Damit wurden Bindungen geschaffen. Freundschaftliche. Und fallweise darüber hinaus, das restliche Leben bis zum heutigen Tage Bereichernde. Jeder und jedem Einzelnen muss ich an dieser Stelle ein aufrichtiges “Danke” sagen. Selbstverständlich hat es auch Menschen gegeben, welche Störungen geschaffen haben. Aber diese waren in der Minderheit. Es waren nur einige wenige, Namenlose.
Der Mittelpunkt meiner Tätigkeit hatte sich vom “Jungen Theater Graz” zum ORF – dem Österreichischen Rundfunk – nach Klagenfurt verlagert, in die Sponheimerstraße 13. “Hier ist Studio Kärnten” – das war unsere Stationsmeldung. Das Gebäude schien größer zu sein als das “Ferry Schlößl” in der Zusertalgasse in Graz, wo der Sitz von Radio Steiermark gewesen war. Dafür lag es aber mitten im Grünen, im eigenen Park. Das Funkhaus in Klagenfurt lag damals noch an der, bereits verbauten, Peripherie der Stadt, rundumher war es ruhig und still. Leben ging nur von diesem Studio aus. Es gab da auch einen “Großen Sendesaal” wo klassische Konzerte, folkloristische Darstellungen oder große Livesendungen, wie etwa “Prominente spielen ihre Lieblingsmelodien” stattgefunden hatten. Immer am Sonntag im Programm “Österreich Regional”. Im Anschluss an die Welt-Nachrichten um zehn Uhr und zehn Minuten. Das war eine “Ring-Sendung”, das heißt, sie wurde in ganz Österreich gesendet, nicht nur in Kärnten, nicht allein im Ausstrahlungsgebiet der ehemaligen “Sendergruppe Alpenland”, dem englischen Besatzungsradio, zu dem auch der Sender “Schönbrunn” in Wien zählte. Ab 1967 gab es dann nur mehr den Einen: den ORF. In Graz wurde Emil Breisach als Intendant inthronisiert und in Klagenfurt Peter Goritschnig. Die Kopfansage zu den “Lieblingsmelodien” erfolgte selbstverständlich “live” vor dem anwesenden Publikum im großen Sendesaal. Der war regelmäßig restlos ausverkauft. Diese Programm-Ansage erfolgte durch den diensthabenden Sprecher. Auch durch mich.
Bei dieser Gelegenheit muss ich darauf hinweisen, dass dieses Österreich durch die erste “Bacher´sche Programm-Reform” mit dem Begriff der “Station Voice” konfrontiert wurde. Ernst Grissemann ´s Stimme prägte sich Tag und Nacht, Woche für Woche und Jahr für Jahr in das Leben der Österreicherinnen und Österreicher ein. Gleichgültig ob man “Ö3” oder “Österreich 1” oder “Österreich Regional” hörte, Ernstl war immer dabei! Er lauerte im Hintergrund, sprungbereit im Notfall einzuspringen. Realiter waren das die Abwicklungstechniker. Und “Ernstl” kam vom Tonband, von einem sogenannten “Bobby”. Das war die erste halbautomatisierte “station voice” Österreichs. Ging irgendwas im Radio-Alltag schief, legte der Abwicklungstechniker rasch den “Bobby” auf und schon tönte Ernstl mit der betreffenden Stationsmeldung über die Sendestationen Österreichs. Dann wurde das Band zurückgespult – das dauerte nur ganz wenige Sekunden – und das Ganze begann wieder von vorne. Einige Generationen begleitete Ernstl auf diese Art durch ihr Leben. Unauslöschbar. Nur die “Bobbinen” wurden gelöscht. So wie im Übrigen jede Menge denkwürdige und sehr gerne gehörte Sendungen. Das heißt, gelöscht wurde nur das auf den Bändern Aufgezeichnete. Die Bänder selbst konnten wiederverwendet werden. Zumindest zwei Mal. Diese Entscheidung traf der Archivar des jeweiligen Landesstudios. Gelöschte und wieder zu verwendende Bänder bekam der “Aktuelle Dienst” des betreffenden Studios, was aus Aktualitätsgründen auch gerechtfertigt war. Das Löschen sparte wiederum Sendekosten. Übernommen wurde der Löschvorgang im Übrigen von speziellen “Löschmaschinen”. Man schob ein Band in den Schlitz, drückte auf den roten Knopf, ein tiefes, hochfrequentes Summen ertönte einige Minuten lang und schon war die Arbeit getan. Diese Maschine lernte ich zunächst in “unserem” Archiv kennen, als ich die heiligen Räume des Peter Schindler das erste Mal betreten durfte. Anlass war die Zusammenstellung der damals unter jüngsten Jugendlichen wohl beliebtesten samstagabendlichen Radio-Sendung “Tanzmusik auf Bestellung”. Herr Schindler, unser Chefarchivar, wies mich in die Geheimnisse des Archivierens ein. Ich hatte viele Fragen, nicht nur was mein frühes “Geräuschemachen” betraf. Das war allerdings innerhalb des Archivs das spezielle Neben-Aufgabengebiet eines Tonmeisters namens Ing. Fritz Weinlich, der mir erklärte dass man “Wind” in “seinem” Geräuscharchiv nicht finden würde, weil der fühl- und hörbare “Wind” nur durch sich bewegende Luft ausgelöst würde, welche wiederum sich an den diversesten Gegenständen bräche. Es wäre etwa ein ganz anderes Windesrauschen hervorgerufen durch Nadelwald, als jenes Geräusch ausgelöst durch sich bewegende Luft zwischen den Stämmen eines Laubwaldes hindurch, geschweige denn herbeigeführt durch hochstehendes Gras. Und tatsächlich: Viele Jahre später musste ich in Malta, in einer Ortschaft namens Marsaxlokk (Marsaschlok ausgesprochen) erleben, wie ein ORF-Hörfunk-Redakteur auf die Aufnahme des Seewindes im Gras bestanden hatte, weil die zu jener Zeit dort wachsenden Gräser im Mittelmeer-Raum Seltenheitswert hätten. Den hatten sie auch, die Gräser. Nicht berücksichtigt bei dieser Theorie wurde der hörende Mensch in seiner absoluten Individualität. Sei es, wie es sei, im Archiv des Landesstudios Kärnten lernte ich jedenfalls die Funktionsweise von “Löschmaschinen” kennen.
Die allererste Programmreform des GI (Generalintendant) Gerd Bacher hatte ungeahnte ökonomische Auswirkungen innerhalb Österreichs: Auf Grund der Dreiteilung der Programmangebote war der österreichische Norm-Radiohörer etwas überfordert. Bisher hatte er vom lokalen Elektrohändler seiner Wahl ein Radiogerät installieren lassen. Das bedeutete, dass der Händler das Gerät lieferte, an die noch nicht normierte Steckdose anschloss und den Empfang des am stärksten zu empfangenden Senders einstellte. Diesen Sender empfing der Österreicher samt Familie ab nun ein Leben lang. Punktum und Schluss. So stellte man es sich vor. Nun kam allerdings Gerd Bacher und machte alle Lebenspläne zunichte. Österreich wurde aufgefordert, sich zur Élite zu bekennen (Ö1), sich zu entscheiden, zu welchem Bundesland man gehörte oder man gezwungen war zu gehören (ÖR), oder zu welcher Generation man sich zählte (Ö3). Unabhängige und Selbstständige konnten natürlich zwischen den Programmen hin und her “switchen”. Der ORF sorgte in seinem eigenen Interesse schon dafür, dass es zum Beispiel auf ÖR zur Mittagszeit in ganz Österreich – über den internen viel zitierten “Ring” – nur “Autofahrer unterwegs” zu hören gab. Alternativ dazu lief das “Mittagsjournal” auf Ö1 und Ö3. Diese Dreiteilung der Programme führte, abgesehen von der Mitarbeiter-Explosion beim ORF selbst, dazu, dass die Elektrohändler alle Hände voll zu tun hatten, dass die Bestellungen von Radiogeräten und ‑konsolen sprunghaft zunahmen und die Serviceleistungen des “Sendereinstellens” explodierten: Ich persönlich bin Zeuge der Wirtschaftsgeschichte jener Zeit, mir klingen noch die Ohren von den Lobliedern und Beschwerden der einzelnen Händler, sei es in der Südsteiermark, im Ennstal, im Lavanttal, dem Drautal oder in Klagenfurt.
Eine Ausnahme von Ernst Grissemann´s Stationsmeldungen gab es allerdings: In der Nacht zum Faschingsdienstag des Jahres 1968 wurde aus einer Idee beinharte Realität. Da lag bereits um 04:30 Uhr auf einer der drei Philips-Tonmaschinen im HKR, dem Hauptkontrollraum des Landesstudios Kärnten, ein vor Erregung zitternder und eingespannter Bobby, voller leuchtender Magnetisierung, mit Ungeduld wartend auf den elektrischen Impuls des diensthabenden Technikers, bis zu dem Augenblick, in dem das Band das erste Mal über den “Ring” lief, also in ganz Österreich und darüber hinaus zu hören war.
Stationsmeldungen hatten zu jener Ära schon einen tieferen Sinn. Wurde etwa, aus welchen Gründen auch immer, eine exakt definierte Zeit nichts gesendet, konnte sich wer auch immer auf diese Frequenz “setzen” und sie sich “unter den Nagel reißen”! Es war “Kalter Krieg” da draußen, in den Lüften des Äthers. Friedrich Hofmeister und meine Wenigkeit produzierten mit dem nachtdiensthabenden Techniker Hermann Knes eine Stationsmeldung zum Faschingsdienstag. Nur für uns, als Lausbubenstreich. Im höchsten Falle wollten wir sie ein einziges Mal senden. In aller Früh. Sie begann mit dem typischen Bimmeln einer Kuhglocke, darauf folgte Fritzis kärntnerisch gesprochenes “Esterreich Regionaaal” beendet von Meinrads blökendem “Muuh”. Sekunden nachdem diese Stationsmeldung ein einziges Mal über den “Ring” gesendet wurde, surrte bei uns im Kärntner HKR bereits das OB, das “Ortsfeste Batteriebetriebene” interne Telefon. Der diensthabende Techniker im HKR der Hauptsendezentrale für Österreich in Wien war am Rohr. Er urgierte ein Überspielen unserer Stationsmeldung. Wir kamen dieser halbdienstlichen Bitte natürlich sofort nach. An diesem Tag gab es unsere Stationsmeldung vom Bodensee bis zum Neusiedler See, von Litschau bis Bad Vellach zumindest stündlich zu hören. Im gesamten Sendernetz des ORF: “BimmelBammBimBim – Esterreich Regionaaal – Mmmuuuuuhh!”. Die diensthabenden Techniker der einzelnen Landesstudios des ORF in ganz Österreich samt der damaligen Zentrale im Funkhaus Wien in der Argentinierstraße entfernten an diesem Tag Ernst Grissemann als “Station Voice” und ersetzten ihn durch unsere Produktion. Auch Gerd Bacher, damals gefürchteter Chef des Unternehmens, fand Gefallen an dieser faschingsschwangeren Untat der “Buam do untn!” im Süden. Dieser Bobby mit dem Band liegt heute noch, laut Friedrich Hofmeister, gut aufbewahrt im Zentralarchiv des ORF auf dem Wiener Küniglberg, meinem jahrelangen Tag- und Nacht-Dienstort. Nach fünfzig Jahren – genau genommen sind es 2019 schon 51 Jahre – ist diese Stationsmeldung bereits Geschichte, ist Bestandteil der österreichischen Mediengeschichte.
Aus der Geschichte des alltäglichen Klagenfurt ist ein Lokal namens “Scanzoni” ebenfalls nicht wegzudenken. Dieser “Scanzoni” war im Verborgenen die Kantine des Funkhauses, Wohn- und Aufenthaltsraum der Kärntner Funkhäusler. Wenn auch drei bis fünf Minuten entfernt. Da es damals noch keine Handys und außerdem kein What´sApp gab, war man schon genötigt ungefähr eine Viertelstunde einzurechnen, im Falle, dass einer von uns von dort geholt werden musste. Per Telefon selbstverständlich. Zunächst einmal. Dann kam der Fußmarsch in angemessener Eile, versteht sich. Und somit war der Gesuchte oder die Gefragte wieder erreichbar. So etwas kam nur sehr selten vor, aber doch. Stammgäste und anonyme Alkoholiker und Anwohner des Funkhauses konnten schon in aller Früh entweder Fritzi (Friedrich Hofmeister) oder mich beobachten, wie wir mit der großen verheißungsvoll bierflaschenklingenden Aktentasche sonntäglich zum Scanzoni und werktags zum “Perko” schlichen – das war der Lebensmittel-Einzelhändler an der Ecke Villacher Straße / Sponheimerstraße – um Wurstsemmmeln, Schinkensemmeln oder auch ganz einfache frische Semmeln und “Hoate” (harte Würstel, Dauerwürstel) und soundsoviele Flaschen Villacher Bier zu holen. Zum Frühstück. Aufgrund des Berufsstandes meiner Eltern entwickelte ich sehr bald beste Beziehungen zu diesem Kaufmannsladen und ließ mich mit “Bücklingen” (Räucherfische) und lieferbaren Kärntner Spezialitäten versorgen. Die Speckseiten aus bestimmten regionalen Seitentälern sind mir in besonderer Erinnerung oder die Selchwürstel. Gastronomisch gesehen ging es mir von Anfang an nicht gerade schlecht im neuen Lebensbereich. Natürlich nutzte ich jede freie Minute, um mich orientieren zu können. Ich umrundete Klagenfurt, wanderte die vier Himmelsrichtungen ab, merkte mir die wichtigsten Straßennamen, ging zu Fuß zum Europapark am See, verirrte mich ein paar Mal im dichten Herbstnebel, hörte das plätschernde Wörthersee-Wasser im Nebel zu meinen Füßen und war froh, wieder Klagenfurt gefunden zu haben. Ich entdeckte die heimeligen Wanderwege am Kreuzbergl, den damals noch dort domizilierten Reptilienzoo, fand auf wundersame Weise den Weg zum “Schrottenturm” und bewunderte das eigenwillige Gebäude. Bald hatte ich meine neue Umgebung im Kopf. Vom “Navi” waren wir zu dieser Zeit noch sehr weit weg. Damals gab es nur gedruckte Karten und das menschliche Gehirn als Arbeitsspeicher. Orientierung war dazumal ganz selbstverständlich, in vielerlei Hinsicht. Ich hatte keine Probleme damit, rein geografisch war ich “eingenordet”. Zumindest auf der Nord-Halbkugel dieser Erde. Ich wusste genau, wo ich war, nur an der Feinjustierung, daran musste ich noch arbeiten. Dass die Menschheit sich diesbezüglich bald entlasten wird, davon waren wir zu jener Zeit Tausende Jahre weit weg.
Die Feinjustierung begann schon am Tag meiner Ankunft am Hauptbahnhof in Klagenfurt und bei der “Anmeldung”, dem heutigen Check-in, im Hotel Moser-Verdino, Ecke Domgasse – Burggasse. Damals war das noch eine sehr bekannte und beliebte Adresse für durchziehende Künstler, Schauspieler und Sänger aller Art. Erst später lernte ich auch den “Sandwirth” kennen. Oder das “Palais Porcia”. Der ORF hat mir im “Moser” freundlicherweise für drei Monate ein Appartement reserviert. Wie damals üblich ohne fließendes Wasser, mit WC am Gang. Aber ansonsten hatte dieses Hotel alles, wovon man je geträumt hatte: Restaurant, Kaffeehaus. Und vor allem der Empfang hatte es in sich. Ich brauchte nicht lange um mich da einzuwohnen. Um meine Sprecher-Frühdienste auch pünktlich beginnen zu können dafür sorgte schon der Nachtportier, der persönlich an die Zimmertür klopfen kam, Telefon im Zimmer war unvorstellbar! Und die Unterhaltungen mit dem Portier spätabends dauerten manches Mal zwei oder drei Stunden. Diese liefen bei mir unter “Feinjustage”. Woher wohl sonst sollte mein Wissen um mein neues Lebensumfeld kommen? Der Nachtportier des Hotels Moser-Verdino war für mich wie ein Buch. Ein unterhaltsames und offenes Werk. Er selbst entrann dem Schicksal seiner Familie. Er war der Einzige von ihnen, der das KZ überlebte. Welches das war, darüber verstummte er und wurde jedes Mal schweigsam. Ich fühlte, dass es da einen Graben gab, über den er nicht hinweg kam. Ich bin überzeugt davon, dass ich noch viel mehr Vertrauensaufbau benötigt hätte.
Damals waren wir überhaupt gezwungen uns alle Zeit dieser Welt zu geben, alleine schon für das Wählen einer Telefonnummer über die Scheibe des alten Bakelit-Telefons, kabel- oder besser drahtgebunden. Der Rücklauf dieser Scheibe dauerte mindestens 1 Sekunde, und da waren insgesamt 10 Ziffern, inklusive der “0”. Später dann lernte ich Menschen kennen, die aufgrund der Rücklaufzeit der Wählscheibe die angerufene Nummer enträtseln konnten. Ich habe es selbst versucht, es klappte tatsächlich. Genauso lernte ich später mit einem Schlag auf die Telefon-Gabel die jeweilige Telefonzentrale zu umgehen oder mit mehreren Schlägen gleich zu wählen – auch gesperrte Apparate zu benutzen. Jedenfalls dauerte der Wählvorgang seine Zeit. Zeit, die man nutzen konnte. Alles und Jedes “dauerte”, musste dauern. Es war eben noch, gerade noch, die analoge Ära. Demzufolge hatte man auch die Zeit zu lustigen Bemerkungen, Gedanken, Ideen. So wie jene zur Stationsmeldung an diesem Faschingsdienstag: “BimmelBammBimBim – Esterreich Regionaaal – Mmmuuuuuhh!”
Das Funkhaus betrat man durch eine Glas-Flügeltüre und stand unmittelbar vor einer kurzen Treppe. Man blickte vom Portal des Eingangs überraschenderweise direkt auf den Fußboden, der in etwa auf Augenhöhe vor dem Besucher lag. Der Blick wanderte solcherart erzwungen weiter zu einem Tresen, hinter dem der Empfangsbeamte residierte. Eindrucksvoll leicht überhöht, sodass der Besucher und natürlich auch die Besucherin nach oben blicken musste. Die Treppe hatte zwar nur vier Stufen, aber diese erfüllten ihren Zweck. Auch heute noch – im Jahre 2020. Auf dem Tresen befand sich außerdem die Mini-Telefonzentrale im Ausmaß von etwa 50 x 30 x 20 cm mit einem “abziehbaren” Telefonhörer. “Abziehbar” bedeutete, dass niemand mehr über diese Anlage telefonieren konnte, weil der Hörer nicht an jenem Ort steckte, wo er stecken sollte. Was Fritzi und ich eines schönen Abends nach Dienstschluss ausgiebigst nutzten, inklusive Dienst-Aktentasche des weiter unten angeführten dritten Empfangsbeamten. Den Hörer der Anlage steckten wir mit seinem Anschluss-Ende in die Aktentasche und den Hörer selbst ließen wir außerhalb baumeln. Für alle sichtbar. Wir provozierten damit den Eindruck eines mystischen tragbaren Funktelefons. So etwas besaß damals allein das Militär, ein ganz besonderes Militär! Der Empfangsbeamte hätte in der Zeit der Hörer-Abwesenheit jedes ankommende Gespräch nur auf die kundendienstfreundliche Nebenstelle gleich in unmittelbarer Nähe umlegen müssen, aber diesen Gedanken ließ bei ihm der gleichfalls von uns provozierte Stress nicht zu. Wir genossen jedenfalls dieses mobile Telefonieren in den diversen Caféhäusern Klagenfurts, vor allem im heute noch existierenden “Perstinger” am “Heiligen-Geist-Platz”. Nach einer halben Nacht brachten wir den Hörer inklusive Aktentasche wieder zurück und steckten ihn auch gleich an seine Stelle, sodass der arme Wachdienstler wieder telefonieren konnte. Diese paar hörerlose Stunden hatten natürlich noch ein Nachspiel, denn unser Intendant von damals, der “Karawankenbär” Dr. Peter Goritschnig, hatte die Gewohnheit immer nach Sendeschluss noch einmal im Funkhaus beim Empfangsbeamten anzurufen und sich über Vorfälle berichten zu lassen. Das klappte an diesem Abend nicht so ganz, hatte aber keinerlei nachteilige Folgen.
Am Empfangstresen war da noch der Verteiler des internen OB-Telefon-Netzes. Die besagten “Empfangsbeamten” waren keine Angestellten des ORF, sondern Bedienstete des “Österreichischen Wachdienstes”, der Security von damals. Zu meiner Zeit gab es drei Personen, die das Funkhaus zu überwachen hatten: Da war zunächst einmal ein Herr Schreiber, ein etwas älterer ehemaliger WKII-Offizier, dann Herr Unterguggenberger und letztlich ein Dritter, dessen Namen ich besser gleich zu vergessen habe. Er war unser ewiges Opfer bei all dem jugendlichen Unsinn von Fritzi und mir. Die Herren Empfangsbeamten hatten den Eingangsbereich total im Griff. Sie hatten den Überblick über jene, die kamen und über jene die gingen. Denn die beiden Treppen die von unten empor führten, in den ersten Stock mit den Studios und dem großen Sendesaal, trafen sich vorher bereits in halber Höhe und teilten sich wieder im ersten Stock und trafen sich wiederum im Halbstock und trennten sich wieder im zweiten Stock und trafen sich wieder ganz oben im dritten Stock, wo die Intendanz domizilierte und in weiterer Folge die Abteilungsleiter und der Sport und der Aktuelle Dienst und natürlich auch der große Sitzungssaal, der des Abends zum Fernsehsalon wurde, welchen ich hin und wieder ebenfalls nutzen durfte. Die Treppe wurde zum Symbol: Man traf sich, ging auseinander, um sich kurz darauf wieder zu begegnen, für eine Zeit lang beisammen zu bleiben und sich wieder zu trennen. In aller Freundschaft und Liebe und im beiderseitigen Einverständnis.
Treppen waren damals etwas völlig Normales und damit war das sich Bewegen über eine solche Einrichtung natürlich Natürlich und Angeboren. Der Mensch ließ sich und seinen Muskeln und seinem Körperbau keine Ruhe, er war ständig in irgendwelche Aktionen eingebunden. Solange bis unter dem Schlagwort “Mobilität” in einigen wenigen Nationen und in einigen wenigen Familien der Rubel zu Rollen begann und für alle anderen das Angeborene seine Dominanz verlor. Es erhoben zwar schon einige der fleißigen Ameisen ihre Stimme und diese wurde auch gehört, aber es benötigte Zeit bis ins dritte Jahrtausend bis diese Stimmen endlich er-hört wurden. Da spielten ich und Kolleginnen und Kollegen ab dem Jahr 1969 täglich mindestens einmal eine Schallplatte, eine sogenannte “Single” mit einem Lied namens “In the Year 2525”, produziert von zwei Herren genannt “Zager & Evans”. In diesem Lied ging es darum, dass wir Menschen von unserer Erde alles genommen hätten, ohne jemals auch nur irgendetwas davon zurückzugeben. Es wurde zum internationalen Hit damals. Und die Plattenteller drehten und drehten sich und das Lied wurde immer wieder gewünscht und die Hörenden dachten und träumten vor sich hin. So lange bis sie Anfang des dritten Jahrtausends ganz knapp vor und auf einer leeren Erde standen und nicht wussten, woher sie alles nehmen sollten. Sie verstanden auch keine “Fremd”-Sprache damals im Jahre 1969. Aber schließlich entwickelte sich um 2000 letztlich doch das “International English”, da begriff man schon, was gemeint war. Außerdem änderte sich in diesen Jahren enorm viel zum Positiven, vom Generationenwechsel einmal abgesehen. Ich kann mich noch an einen Kollegen bei der Österreichischen Kurzwelle erinnern, namens Peter T., der allen Ernstes behauptete, dass an einem Automobil alles “natürlich” und sowieso “verrottbar” sei! Das war ein Mitarbeiter des ORF, aktueller Dienst! Er konnte auch Englisch. Wir arbeiteten sozusagen Tür an Tür mit der englischen, der französischen und der spanischen Redaktion und hatten diesbezüglich keinerlei Probleme. Aber was unsere Umwelt betraf, da gab es immer wieder heißeste Diskussionen. Auch innerhalb der bedeutendsten meinungsbildenden Institution Österreichs – damals. Mittlerweile allerdings sorgte der Ausbruch der Corona-Pandemie 2020 für einen weiteren Schritt in Richtung einer hoffnungsfrohen symbolischen Geburt des Homo Sapiens.