Das Stiftingtal

Jetzt muss ich doch noch ein wenig im Stif­ting­bach­tal ver­wei­len, bes­ser: in der Rohr­bach­hö­he, die ja ein Tal war. Gegen­über von unse­rem Hof war – bzw. ist ja noch immer – ein Berg. Und über die­sen Berg führt eine Stras­se. Sie beginnt in Graz, im Stadt­teil St. Leon­hard, und endet in Gleis­dorf, cir­ca 30km wei­ter. Sie hat­te eine Unmen­ge von Kur­ven und Stei­gun­gen und Ser­pen­ti­nen. Es war die “Ries”. Zur dama­li­gen Zeit war das ein Begriff, vor allem bei Motor­sport­lern: Die “Ries”-Bergrennen. Und natür­lich schau­ten wir zu. Heim­lich durch die Büsche und rest­li­ches Unter­holz, fast direkt an der Renn­stre­cke. Wir eil­ten da unge­fähr 30 Minu­ten berg­auf, durch dich­ten Wald und über Unter­holz. Wege gab es nicht. Die Welt war­te­te auf Erschlie­ßung, so schien es. Die Moto­ren konn­ten wir schon von weit her hören, je lau­ter des­to auf­se­hen­er­re­gen­der,  und dann natür­lich die Signal­hör­ner der Rettungsautos.

Autos und Moto­ren, das war die Zukunft von der wir alle träum­ten, egal wie alt oder jung wir waren. Moto­ren – ob auf hoher See, in der Luft, auf oder unter den Stras­sen. Moto­ren. Moto­ren. Und Antriebs­mit­tel, Betriebs­mit­tel, schien es in rau­hen Men­gen zu geben. Damals. Betriebs­ge­mit­tel­te Moto­ren sozu­sa­gen, Hen­ry Ford hat sie unse­rer Welt, bes­ser den Finan­ciers,  ein­ge­re­det, jede ande­re Erfin­dung oder Idee und sei sie noch so rea­lis­tisch wur­de ein­fach abge­tan, als “Nar­re­tei” oder “Blöd­sinn”, der E‑Nabenmotor von Fer­di­nand Por­sche etwa, zu Beginn des ers­ten Welt-Kriegs. Ich kann mich noch gut an die alten Zei­tun­gen auf dem Dach­bo­den unse­res Hau­ses und an die vie­len ein­drucks­vol­len Fotos von den lan­gen lenk­ba­ren “Stras­sen-Zügen” erin­nern, auf­ge­nom­men auf den Stras­sen Wr. Neustadts!

Die Mobi­li­tät war damals noch stark ein­ge­schränkt – auf Fahr­rä­der. Und auf Holz­koh­len-LKW. Unser fah­ren­der Lebens­mit­tel­händ­ler, der uns jeden Diens­tag mit Brot und Gebäck und ande­rem Ess­ba­ren, mit Sei­fe und so, ver­sorg­te, hat­te einen sol­chen, einen ofen­be­trie­be­nen Holz-Ver­ga­ser-Motor-LKW. Ein unver­gess­li­cher Geruch! Die Ver­ga­sung traf uns nur ein­mal in der Woche, jeden Diens­tag – und das auch nur im Som­mer, anläss­lich der “Som­mer-Fri­sche im Stif­ting­tal”. Danach und davor wur­den nur die Groß­el­tern und deren Tie­re vom Abgas betrof­fen.  Ich mach­te mir damals noch kei­ne Gedan­ken dar­über, ich dach­te auch nicht dar­über nach, dass das Was­ser des Bäch­leins da vor dem Hof irgend­wann ein­mal ins Schwar­ze Meer ström­te. Jeden­falls schien das alles noch immer bes­ser zu sein als stun­den­lang in die nächs­te Ort­schaft zu wan­dern und schwer bepackt nach der Ein­kaufs­tour wie­der nach Hau­se, wie­der nach “Hof”, zu kommen.

Das galt natür­lich auch für die sonn­täg­li­chen Kir­chen­be­su­che. Die nächs­te Kir­che war jene von Maria­trost, eine viel besuch­te Wall­fahrts­kir­che. Zu Fuß ging man schon an die 3 Stun­den dort­hin. Zu weit für den Sonn­tag. Aber von Maria­trost kam so alle paar Wochen ein Pries­ter oder Pfar­rer, der las dann die Mes­se ganz pri­vat im eige­nen Haus oder Hof, nahm wahr­schein­lich auch die Beich­te ab.

Mariatrost bei Graz
Maria­trost bei Graz – http://akon.onb.ac.at

Nach­dem ich aber evan­ge­lisch war – Augs­bur­ger Bekennt­nis! – und mei­ne Groß­el­tern römisch-katho­lisch, muss­te ich den Hof ver­las­sen, wäh­rend der Herr aus der Wall­fahrts­kir­che anwe­send war; ich gehör­te ja zu den Abtrün­ni­gen. Und in katho­li­schen Kir­chen hat­te ich sowie­so nichts ver­lo­ren. Was Maria­trost betrifft: Ein Leben lang hat­te und habe ich einen gro­ßen, sehr gro­ßen Bogen gemacht um die gan­ze Gegend. Noch dazu als es sich bei dem gro­ßen Gebäu­de ganz rechts um ein Heim für schwer-erzieh­ba­re Jugend­li­che gehan­delt hat. Nicht ein­mal der berühm­te “Kir­chen­wirt” gleich hin­ter und rechts neben der Kir­che hat mich jemals ange­zo­gen. So wie es zahl­lo­se ande­re Kir­chen­wir­te wo auch immer taten. Gott sei es gedankt: Es hat mich noch kei­ner nach mei­nem Glau­ben gefragt. Ansons­ten wär ich mich damals schon vor­ge­kom­men wie unter Sun­ni­ten oder Schii­ten. Immer­hin: Mei­nen Karl May hat­te ich damals aus­gie­big stu­diert. Aber das hie­ße jetzt eini­ge Jah­re vorgreifen.

Da war der Weg nach Schil­lings­dorf schon ver­tret­ba­rer und kür­zer, eine Stun­de per pedes. Zum Fri­seur etwa, kon­kre­ter dem Raseur, denn dar­um gings ja in Wirk­lich­keit: um den Bart mei­nes Gr0ßvaters, der muss­te gepflegt wer­den, und zwar pro­fes­sio­nell! Der “Bart des Pro­phe­ten”. Da gabs kein Wenn und Aber, das muss­te regel­mä­ßig sein. Der ein­zi­ge Hin­de­rungs­grund, der Gül­tig­keit hat­te, war das Wet­ter. Ich durf­te selbst­ver­ständ­lich mit, ich hat­te mich ja auch an sol­che Vor­komm­nis­se und Ereig­nis­se zu gewöh­nen!
Der Weg dahin führt am “Gut Neu­hof” vor­bei. Die­ses Gut liegt hoch über dem Tal. Noch höher als jener Guts­hof, der Dr. Maresch gehör­te, einem pro­mi­nen­ten Gra­zer Gerichts­me­di­zi­ner, der spä­ter dann mit dem ers­ten UNO-Kon­tin­gent in den Kon­go reis­te, um diver­se Unstim­mig­kei­ten mit dem Wer­den die­ses Lan­des auf­zu­klä­ren. Die Unstim­mig­kei­ten mit dem Hin­schei­den des ers­ten Prä­si­den­ten die­ses Lan­des, einem gewis­sen Patri­ce Lumum­ba etwa. Die­ses ers­te Kon­go-UNO-Kon­tin­gent wies star­ke öster­rei­chi­sche Betei­li­gung auf. Eini­ge Lands­leu­te sind gleich in die­sen Regio­nen geblie­ben. Jah­re spä­ter hab ich sie in Togo oder in Ben­in etwa getrof­fen. Wie jenen Arzt, der mich hän­de­rin­gend über den Wirk­stoff Papain in der Papa­ya auf­ge­klärt hat. Danach hat es noch­mal 10 Jah­re gedau­ert, bis der Wirk­stoff end­lich in Tablet­ten­form in den Han­del gelang­te. Für alle Magen­kran­ken ein Geschenk der Finan­ciers oder von hart­nä­cki­gen Infor­man­ten. Jener Arzt hat­te sich damals gera­de aus diplo­ma­ti­schen Grün­den mit einer um vier­zig Jah­re Jün­ge­ren samt Anhang liiert. Im Zusam­men­hang mit dem Kon­go von damals und der öster­rei­chi­schen Pro­duk­ti­on eines ers­ten Autos ist mir auch der Gag des “Wür­fel”, einer bekann­ten öster­rei­chi­schen Kaba­rett­grup­pe rund um Kuno Knöbl in Erin­ne­rung, wonach die kon­go­le­si­sche Natio­nal­bi­blio­thek unse­re Haf­lin­ger-Kfz ein­sam­mel­te, weil sie vor­ne als “Puch” gezeich­net waren.
Die­ses “Gut Neu­hof” hoch über dem Stif­ting­tal gehör­te einer alten Zir­kus-Dynas­tie, dem Zir­kus “Klud­s­ky”. Da konn­te man exo­ti­sche Tie­re bei der Arbeit beob­ach­ten, für uns Kin­der äußerst inter­es­sant. Und gleich­zei­tig immens Hori­zont­er­wei­ternd. Ein Dro­me­dar hat nur einen Höcker zum Bei­spiel, und ein Kamel gleich zwei davon. Das konn­ten wir sehen! Nicht nur davon lesen oder hören. Nein, nein, anschau­lich sehen! Neben Arbeits­ele­fan­ten und ande­rem Getier. Auch im euro­päi­schen Win­ter. Der Zir­kus hat mich in wei­te­rer Fol­ge ja nie ganz los­ge­las­sen. (Sie­he auch: circusarchiv.com) Vor allem war es der geheim­nis­vol­le Bor­ra-Weg. Bor­ra war der König der Taschen­die­be, “Der Dieb von Bag­dad”. Groß­va­ter wuss­te ja nicht sehr viel über die Klud­s­kys zu erzäh­len, dafür aber mein Vater. Da tauch­te eine gan­ze exo­ti­sche Welt auf, eine Welt, die über­haupt nicht hier­her pass­te, die es nur in irgend­wel­chen Träu­men zu geben schien. Ein paar Jah­re spä­ter begriff ich erst, dass in die­sen Wel­ten der Schlüs­sel ver­bor­gen lag zu Kul­tu­ren, zu ande­ren Ein­sich­ten und Welt-Ver­ständ­lich­kei­ten. Heu­te – 2016 – hat sich das Wis­sen dar­um schon bei­na­he um die gan­ze Welt ver­brei­tet. Zir­kus im tra­di­tio­nel­len Sinn gibt es nicht mehr. Er hat sei­nen Zweck und Sinn erfüllt. Dan­ke dafür allen, die ihm zum Leben ver­hol­fen hatten.

Auf dem Gelän­de die­ses Guts hat es außer­dem etwas gege­ben was unse­re kind­li­che Neu­gier­de zusätz­lich geweckt hat­te. Und das ers­te Mal in mei­nem bis dahin noch sehr kur­zem Leben mit Geo­lo­gie Bekannt­schaft schlie­ßen ließ, mit durch­schla­gen­den weit­rei­chen­den Fol­gen für mein wei­te­res Leben. “Sand­stein” war das Aus­lö­sen­de. Tage­lang beschäf­tig­te ich mich mit den Struk­tu­ren die­ses Steins, der eigent­lich gar kein Stein war, wie ich “Stei­ne” aus Flüs­sen und Bächen kann­te. Das Gan­ze dort war eine künst­li­che Höh­le, von Men­schen ange­legt. Angeb­lich soll das ein Luft­schutz­kel­ler gewe­sen sein. Vie­le Jah­re spä­ter, lern­te ich sol­che Höh­len als “Spreng­kam­mern” ken­nen. Frei­lich kann man die­se ohne sie scharf zu machen, auch als Schutz­kel­ler ver­wen­den. Man hat­te die­se Kam­mern ein­fach in den but­ter­wei­chen Sand­stein geschla­gen. Gegen Ende des letz­ten gro­ßen Krie­ges in Euro­pa und das ist letzt­lich schon 72 Jah­re her. Ich gehö­re also zur ers­ten, glück­li­chen Gene­ra­ti­on in Mit­tel­eu­ro­pa, die des­we­gen auch von vie­len ande­ren benei­det wird und ange­fein­det. Eine Welt ohne Krieg und ohne Neid darf doch nicht sein, oder?
Die­se Welt durf­te ich aus­kos­ten in Stif­ting, beim Rahm- und But­ter­schla­gen im küh­len Kel­ler des Bau­ern­ho­fes. Die­se stun­den­lan­ge und schweiß­trei­ben­de Tätig­keit war mir vor­be­hal­ten, bei mei­nen Wochen­end- und Som­mer-Auf­ent­hal­ten. Dar­auf war ich auch sehr, sehr stolz. Rahm und But­ter schmeck­ten auch dem­entspre­chend nach Rahm und But­ter. Anders als 90% der heu­te erhält­li­chen Pro­duk­te. Lang­sam aber sicher wird es wie­der. Es gibt ja immer mehr “Bau­ern” und Gas­tro­no­men, die sich auf ihre urei­ge­nen Auf­ga­ben besinnen.

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