Das mündliche Angebot aus Kärnten war nicht abzulehnen. “Vati” wurde kurz zuvor schwer krank. In meiner Entscheidungsfindung wurde es mir leicht gemacht: Ich ging also von der schönen, alten Universitäts-Stadt Graz nach Kärnten, wechselte vom Herzen Österreichs in den Süden, besser: den Südwesten. In das dortige Landesstudio. Ich war meiner Aufgabe, die ich mir innerlich gesetzt hatte, etwas nähergekommen: Ich begann als ganz einfacher “Sprecher”. Das war etwas mehr als ich bisher für das Studio Steiermark oder das damalige Radio Graz getan hatte. Ich war auch bereit, einiges mehr zu tun. Ich übte weiter, trainierte täglich, wie ich es während meiner Akademiker-Jahre erlernt hatte. Es lag auch in meinem eigenen Interesse, das zu tun. Eine Stunde lang täglich. Das bedeutete auch, eine Stunde früher aufzustehen. Der Frühdienst etwa begann um 5 Uhr, da musste ich bereits um 3 Uhr halbwegs munter sein. Wir Sprecher fungierten noch dazu als “Betriebsbeamte”, das heißt wir waren für die ganze organisatorische Abwicklung des Radioprogramms zuständig, für die AKM-Meldungen zum Beispiel. So wie andere im Bereich des Sports öffentlich akzeptiert trainierten, trainierte ich also damals nicht öffentlich akzeptiert, im Geheimen. Es durfte niemand wissen, dass ich schon um 3 Uhr früh aufstand und irgendwas “trainierte”! Man kam ja schon als voll ausgebildeter “Sprecher”, wie das damals hieß, auf die Welt! Ausserdem: Wer würde sich sonst schon mit Lautkombinationen beschäftigen, mit Artikulationsorten und ‑organen? Hauptsache, man versteht mich irgendwie, oder? Dass dies aber eben nicht so einfach ist, war mir schon damals klar. Klar, akademisch geschult. Besser geschrieben: informiert. Noch besser: synchronisiert. Ich trainiere heute noch, zumindest ein halbes Stündchen. Diesmal von der jüngeren Öffentlichkeit akzeptiert.
Apropos Öffentlichkeit: Ich war tatsächlich offen. Offen und Aufnahmebereit. Das ganze Studio Kärnten war zunächst einmal faszinierend, die technische Seite, die Verwaltung, die viele hundert Seiten umfassende sogenannte “freie Betriebsvereinbarung”, die einzelnen Abteilungen und der Kern des Studios, die Information. Es war faszinierend. Und ich war mir bewusst, dass ich hier die ersten Fädchen in die Hand bekam. Ich erfuhr das “Radio-Machen”. Es war damals ein ganz und gar anderer ORF als er sich heute, 2018, darstellt. Das jedenfalls wird wohl noch Gegenstand vieler, vieler Kapitel sein. Ich war und bin heute noch dankbar für das Vertrauen, welches man mir damals entgegengebracht hatte.
Kurz nach meinem Arbeitsantritt hatte das Landesstudio Kärnten sogenannte “Ö1-Woche”. Das bedeutete damals, dass das betreffende Studio eine ganze Woche lang Programm zu machen hatte, und zwar für ganz Österreich auf den Frequenzen von Ö1, ein Programm, welches von allen Abteilungen des jeweiligen Studios zu liefern war. Live-An- und ‑Absagen und ähnliches inklusive. Eine ganze Woche lang war das Studio im Blickpunkt österreichweiter Öffentlichkeit, stand der Output unter strenger Kontrolle der Verantwortlichen, denn Ö1 war das elitäre Aushängeschild des ORF und wurde gerade von jenen gehört, die sich zur Élite der Élite zählten und die auch jene Kontakte hatten und diese auch tatsächlich aktivierten, wenn etwas geschah, was ihnen aufstieß. Dass zum Beispiel ein italienischer Eigenname nicht korrekt ausgesprochen wurde, oder ein französischer oder ein kamerunaischer oder so. Und das ist bei Eigennamen sowieso eine haarige Angelegenheit. Der geneigte Leser denke etwa an Al-Qahira oder an Beijing oder an das mundartliche “Wean”, welches im schriftartlichen zu Wien wurde (Vienna, Vienne, Vena, fiyinna usw.). Denkt man an diesem Punkt etwas weiter, kommt man bald dahinter, dass wir armen Menschlein uns ja fast alles viel schwieriger machen, als es ist. Zwei Jahrtausendelang haben wir zusehr in Schrift- statt in Sprechsprache gedacht. Schrift war doch von irgendjemanden gegeben, in die Hände von gläubigen Menschen gelegt. Luthers Weg in eine einheitliche Sprache war in vielerlei Hinsicht schon OK, auch Gutenbergs Idee war in Ordnung. Nur die Welt haben beide und folgende Generationen noch einmal und immer wieder entdeckt und wiedererfunden. Obwohl es sie schon lange vor unserer Existenz gab, wie wir heute zweifelsfrei wissen. Aber gut, die Daseinsberechtigung neu zu erfinden, immer wieder neu zu erfinden, sei akzeptiert. Wir entlasten uns momentan ja sowieso bereits in vielerlei Hinsicht. Der Chefsprecher ist arbeitslos geworden, digital abgelöst. Es gibt ja kaum eine nicht-digitalisierte Sprache, bis auf die Sprache spezieller indigener Stämme. Und des Rätsels Lösung zur korrekten Aussprache irgendeines Namens oder einer Bezeichnung ist immer nur ein paar Mausklicks entfernt, auch hörbar. Das war ja nicht immer so. Nur bei ein paar Eigenheiten tut man sich noch schwer, bei Schina zum Beispiel und den Schinesen oder beim Wort Plátin mit langem, geschlossenen “a”, vor allem im nord-deutschen Raum oberhalb der Benrath-Linie. Bis dieses Manko in den Köpfen korrigiert werden wird, wird noch eine Zeit vergehen. Ich habe doch tatsächlich die Zeit erlebt, als ganz normale, einfache Menschen, die noch nicht einmal Siebs’ches Deutsch sprachen, als kleine Götter angesehen wurden, von denen man etwas – als politisch aktiver Mitbürger – lernen konnte. Und was! Wir alle haben dieses “was” genug oft erlebt. Zu oft.
Ich hatte also “Ö1-Dienst” in dieser Woche und machte es mir gemütlich vor dem Mikrofon. Ein Abwicklungsstudio im Hörfunk bestand damals aus zwei Räumen, dem technischen Abwicklungsraum mit dem Regiepult, drei Tonbandmaschinen und zwei Schallplatten-Geräten und dem Sprecher-Studio mit einem größeren Arbeitstisch und zwei Mikrofon-Plätzen. Wobei der Arbeitstisch eigentlich ein Sprechertisch war, mit aufklappbarer, schräg zu stellender Lesefläche, wenn man wollte. Der Tisch war mit grünem Filz überzogen. Das diente der besseren Akustik. Die beiden Räume waren miteinander durch ein größeres Fenster verbunden, so dass man – abgesehen von den technischen Kommunikations-Einrichtungen – sich gegenseitig während einer Live-Sendung auch kommunikative Handzeichen geben konnte. Ansonsten gab es noch ein übliches Telefon und ein sogenanntes “OB”-Telefon. “OB” stand für “Ortsgebundene Batterie”. Das war das interne Telefon, mit dem die einzelnen Landesstudios untereinander verbunden waren und welches man auf die vielfältigste Art schalten konnte. Auf diverse Leitungen, Lautsprecher oder auch auf Sendeleitungen. Dieses Studio, um welches es in diesem Falle ging, war die sogenannte “Alm”. Ein aussergewöhnliches Studio in einem Zwischenstockwerk. Einsam und heimlich gelegen. Zwischen technischer Abwicklung und Sprecher-Studio war noch ein hölzernes Treppenhaus installiert, man ging also einerseits zwischen Regieraum und Sprecherstudio hindurch und blickte andererseits über das Treppenhaus hinweg in den zugehörigen Regie-Raum und gab sich irgendwelche Handzeichen, für das Abspielen von Schallplatten oder Bändern oder für das “Rotlicht”, das gleichbedeutend war mit dem Zeichen für “auf Sendung”. Durch dieses Treppenhaus war die Produktionseinheit der zwei Räume getrennt. Natürlich war das Studio schalldicht, das Treppenhaus natürlich nicht. Das Knistern und Knacken des Holzes gab dieser Treppe etwas schon sehr Heimeliges und sehr Gemütliches. Mir hat es dort immer sehr gefallen, weil es sehr abgelegen und – abgesehen von so manchem Schabernack auf der Treppe dazwischen – störungsfrei von irgendwelchen Mitarbeitern und Kollegen gelegen war.
Meistens wurde Ö1 von der “Alm” aus abgewickelt. Und so machte ich es mir im Sprecherstudio auf der Alm gemütlich. Vorbereitet hatte ich mich bestens. In der, damals noch vorhandenen und bestens geführten, Sprecherkartei nach unbekannten Wörtern und Begriffen Ausschau gehalten, nach mir noch unbekannten Werken der Ernsten und der zeitgenössischen Musik und der Literatur nachgesehen – was konnte ich noch mehr tun als dies. Ich setzte mich also gut vorbereitet und somit beruhigt vor das Mikrofon. Was sollte schon passieren.
Und es passierte doch! Das OB-Telefon summte. Und gleichzeitig blinkte das drohende Kontroll-Lämpchen. Eine Stimme meldete sich: “Kollpacher”! Der gefürchtete Emil Kollpacher! Der Chef aller österreichischen Sprecherinnen und Sprecher. Damals hatte es nur “Sprecher” gegeben, auch wenn es “-Innen” waren. Ich sagte artig “Guten Tag!” – es war ja doch schon mitten am Vormittag. “Schöne Grüße aus Frankreich!” schallte es mir da entgegen. Ein Blitz durchzuckte mich. Mein Herz begann ganz leicht höher zu schlagen. Aus Frankreich! Grüße! Babette erstand vor mir, ihre ganze Persönlichkeit, ihre Zärtlichkeit, ihre Lippen, ihre tiefe Augen, ich konnte ihre Arme spüren. Sie war bei mir. Das alles löste ein Kollpacher´scher Satz aus. Wie kommt denn Herr Kollpacher nach Paris? Wie kommt er zu jener Architektenfamilie? Wie kommt er zu meiner kurzen Grazer Sommerliebe, zu meiner Babette? Verwirrung, Sturm und Drang, Hin- und Hergerissen-Sein, Chaos!
Die vielen Tage eines heißen Sommers mit ihr standen in wenigen Sekunden vor mir, die Tage in Stifting oder die in St.Peter, in unmittelbarer Nähe des Senders Graz beim Kollegen Harald Perscha, der später auch ein Kollege blieb, beim ORF, als Sprecher von Radio Steiermark. In seinem Haus dort konnte man über den Klingel-Transformator Radio hören. Ich kann mich noch genau an die grossen Äuglein von Babette erinnern, als steirische Volksmusik aus dem Trafo zu vernehmen war. Die Altstadt von Graz war mit dem Dom, dem Stadtpark, dem Schloßberg mit den vielen heimlichen Wegen und Serpentinen überzogen mit einem Schleier aus Purpur und Watte, die vor unseren Ohren lag und alles durchließ, was uns betraf. Alles andere war nicht so existenziell wichtig. Bis auf die Jazz-Szene und das Theaterspiel und alles was unmittelbar darauf wirkte. Ein ganzes Universum stand da plötzlich wieder auf. Und das alles nur, weil da das OB aus Wien summte. Und ein ganz und gar Ahnungloser am anderen Ende hockte und mir schöne Grüße ausrichtete. Aus Frankreich. Was diese paar Wörter auslösen konnten, wer konnte sich das schon vorstellen. Kann sich das überhaupt jemand vorstellen, was ein paar unbedachte Wörter auslösen können?
Ich dachte schon in einem Unternehmen beschäftigt zu sein, wo man sich dessen bewusst wäre. Aber das gegenständliche Erlebnis ließ mich doch sehr stark zweifeln.
Vor mir auf einem Blatt Papier mit den Ansagen stand ein eindeutig deutscher Name mit lateinischen Wurzeln: Robert Casadesus. Der hatte nichts damit zu tun, mit Paris und Babette. Der konnte auch nicht der Anlass des Anrufes sein, also doch Babette. Ich kam darauf zurück. Herr Kollpacher blieb dabei, dass er eigentlich den lieben Herrn Casadesus meinte, der sei nämlich Franzose und demzufolge spräche ein österreichischer Sprecher diesen Herrn auch französisch aus, wir sprächen nämlich alle so aus, als würden sie dort leben, wo sie geboren worden waren. Amen!
Das war eine sehr gewagte Behauptung. Kurz darauf stand auf den Karteikarten der Sprecher unübersehbar gestempelt zu lesen: “asked himself” in English! Bei allen die offensichtlich persönlich zur Aussprache ihres Namens befragt wurden. Aber das funktionierte natürlich nur bei Lebenden und bei Personen. Die Vorteile der digitalen Welt werden da schon schockierend offensichtlich. Das war übrigens das einzige Mal, dass sich der Chefsprecher des ORF bei mir gemeldet hat. Schade.