Ich war damals gerade 4 Jahre jung. Meine Mutter nahm mich an ihre linke Seite, rechter Hand den alten, abgegriffenen Papp-Koffer. Wir gingen die Steyrergasse hinunter bis zur Conrad-von-Hötzendorf-Straße, bis zur Straßenbahn-Haltestelle, bis zur Tramway. So wurden die ratternden, schaukelnden, Staub-aufwirbelnden und gleichzeitig nach Öl riechenden Elektro-Ungetüme bezeichnet. “Deutsch” ausgesprochen natürlich: “Drammwai”. Einmal hat uns zwar eine jüngere Dame versucht zu korrigieren: “Das heißt ‘Dremwäi’!”, aber das war sinnlos, eine überwältigende Mehrheit hats einfach österreichisch oder steirisch oder grazerisch ausgesprochen. Wir stiegen also in die “Dramm” und schaukelten durch ganz Graz zum Hauptbahnhof. Ich war zwar erst 4, aber ich kann mich noch an alte dunkle Löcher erinnern, an den Gestank von abgestandenem Bier, an sowas wie ein Bahnhofs-Restaurant, in das wir uns nie getrauten hinein zu gehen. Warum? Wieso? Weswegen? Ich habe nie gefragt. Es blieb ein leises Unbehagen, solange bis neue Lokalitäten vorhanden waren. Ein zweites Non-Stop-Kino zum Beispiel, viele Jahre später. Und ein im Stile der 1950er Jahre geprägter öffentlicher Trinkwasserbrunnen. Dem ich zu seiner Bedeutung verhalf, indem ich zusammen mit meinem Jugendfreund davor fotografiert wurde und dieses Foto in der “Neuen Zeit”, in einer von den vier oder fünf Tageszeitungen von damals veröffentlicht wurde. Und schon waren wir als freiwillige Models mitten zwischen die Fronten geraten, über die uns die verschiedensten Erwachsenen (Nichten, Neffen, Brüder, Schwestern usw. usf.) aufklärten: Die “Neue Zeit” läsen angeblich ausschließlich die “Roten”, die “Schwarzen” läsen die “Süd-Ost Tagespost”, die “Wahrheit” würde nur von den sogenannten “Kummerln”, den Kommunisten oder deren Sympathisanten, und die “Kleine Zeitung” von den Katholiken gelesen. Naja, wir nahmens halt zur Kenntnis und freuten uns, etwas für die Allgemeinheit getan zu haben, für welchen Teil davon auch immer. Die “Kleine Zeitung” gibts heute, im 21. Jahrhundert, noch immer. Wir waren damals die Einzigen die sich zufälligerweise (Bahnhof-Non-Stop) in der Gegend des Hauptbahnhofes herumtrieben, deswegen auch das Foto. Jenes – vorhin angesprochene – Unbehagen also begleitete uns auch durch die stinkenden Unterführungen der Gleisanlagen bis wir bei der Lokomotive unseres Zugs angekommen waren. Das dampfende und schnaubende Untier gewährte uns Schutz und Hilfe, strahlte unbändige Kraft und Energie aus. Lokomotiv-Führer und Heizer, das waren die Chefs! Sie zeigten uns die Welt – bis Selzthal zumindest. Ab dieser Ortschaft in der Obersteiermark gings dann per E‑Lok weiter, viel leiser und ohne Dampf-Ausstoß. Man konnte auch wieder die Fenster öffnen und seine Nase in den Wind halten, nicht zu weit natürlich. “Nicht hinauslehnen!”, das stand ja bei jedem der Waggon-Fenster zu lesen. Erwachsene schienen sich damit etwas schwer zu tun. Innerhalb dieser E‑Loks gabs zumindest Einen der den Zug anführte, viel mehr ließ sich nicht erfahren von den ÖBB. Dass es da einen “Zugführer” gab, der in der ÖBB-Hierarchie noch vor dem Fahrer, dem Führer, der Lok lag, erfuhren wir ja erst viel später. Selzthal war ein wichtiger und großer Bahnknotenpunkt. Da wurden Züge umrangiert von Dampf auf Elektro und umgekehrt. Von da an gings also elektrisch nach Mitterndorf, ganz leise. Ganz leise schlichen wir so ins Salzkammergut…
Da sind wir also. Im Herzen Mitterndorfs. So um 1335 entstand die Kirche auf dem Hügel in der heutigen Ortsmitte. Um die Kirche herum entwickelte sich die Ortschaft. Zur Kirche hoch über Bad Mitterndorf führt eine Stein-Stiege mit vielen Stufen. Diese wird flankiert von zwei weiteren Stiegen. Ganz rechts gab oder gibt es die Stiege zum Kaufhaus “Köstler”. Soviel ich mich erinnern kann, ein richtiges Landkaufhaus, wo man alles, aber wirklich ALLES, einkaufen konnte. Dann gab es da noch die dritte Stiege. Und die war diejenige, welche zu meinem Traumhaus führte. Die Flut von Licht und Sonne brannte sich in meine grauen Zellen für ewige Zeiten fest, damit auch die Holzdecken der paar Zimmer unterm Dach, die von Frau Pretterebner bewohnt wurden. Die ganze Einrichtung, jeder Schrank, jeder Stuhl, jeder Teppich lebte unter der liebevollen Führung dieser Frau, die auch die Hebamme der Gemeinde war. Sie hatte mir in diesen Zeiten des Jahres 1945 zum Licht dieser Welt verholfen. Und das Licht dieser Welt war das Licht Mitterndorfs. Klar, es wurde mit der Zeit, den Jahren und Jahrzehnten größer, weitete sich aus, aber es blieb immer das Licht, in seinem Kern blieb es immer das Licht Mitterndorfs.
Frau Pretterebner bewohnte den ersten Stock, den “Holz-Stock”. Ihre Küche mit dem heimeligen Original-Salzkammergut-Kachelofen wies drei Kasten-Fenster auf. Zwei davon gingen in Richtung der Kirchenstiege, aber das dritte Fenster hatte es in sich. Das war nämlich gleichzeitig das Türchen für “Minka”, der Mitbewohnerin, für mein Kuschelinchen, für mein Ein und Alles, für das Hauskätzchen. Dieses Dritte Fenster führte auf Grund der Hügel-Lage des Hauses ebenerdig über den Rasen und den Weg rund um die Kirche. Wenn man wollte und Minka einverstanden war, konnte man den ganzen Tag beobachten, wer da die Nähe des Glaubens suchte, wer da den Pfarrhof besuchte oder die Kirche selbst oder wer sich für die Reste des alten Friedhofs interessierte. Der Neue Friedhof lag wunderschön am Rande der Ortschaft, gleich gegenüber der Kirche. Auf Augenhöhe hatte man beim Blick durch das dritte Küchenfenster zwar die Schuhe der Passanten vor sich, aber wenn man Kopf und Blickrichtung nur ein wenig drehte, hatte man schon den Himmel, die Wolken und die Baumwipfel vor sich.
Diese Perspektive, die mir da geboten wurde, regte schon mein ganzes Denken samt resultierende Gedanken an: Wie war es möglich aus ein und demselben Standpunkt die Welt von Unten und gleichzeitig von Oben zu sehen? Menschen einerseits vom Fuß bis zum Scheitel zu erkennen und zu begreifen und andererseits wie ein Engel über ihnen zu schweben, sie von Oben herab zu betrachten, sie mit dem nötigen und erforderlichen Abstand zu beobachten und mögliche Schlüsse zu ziehen. Was – wie ich später erfahren musste – nicht ganz ungefährlich war, weil man auf diese Art von ungerechten Vorurteilen nicht befreit wurde.
Der ganze Hügel samt Kirche, Pfarrhof und “unserem” Haus also war ihr Reich. Das Reich Minka’s. Natürlich war es auch “unser” Reich. Das von Minka, von Frau Pretterebner und von mir. Sommerfrische war gleichbedeutend mit Minka-Frische. Und dieser Begriff hatte sehr viel zu tun mit Frische. Frische die einfach nur wohltat, vor allem in geistiger Hinsicht, im Denken, im Auffassen und Verarbeiten, im Kombinieren.
Meine Mutter war ja nur die ersten paar Male mitgefahren, solange bis ich den Weg bereits kannte: Graz Hauptbahnhof – Kurswagen Bad Aussee – Mitterndorf. Das wars. Ein paar ÖBB-Bedienstete hatten schon ein Auge auf mich, aber kein Besonderes. Es war alles so einfach und selbstverständlich. Es war alles so klar und es gab so viel zu sehen. Die vielen Menschen auf dem Reiseweg. Menschen jeglicher Typologie, da gab es welche, die erster Klasse fuhren und welche die zweiter Klasse unterwegs waren, so wie ich. Jene von der Ersten sprachen nicht viel, gaben meistens vor in Tageszeitungen zu lesen. Ich merkte das daran, das sie während des Lesens ganz schnell ihre Umgebung checkten, woanders hin blickten, also nicht ganz aufmerksam waren. Sie taten mehr so, als ob und so, als ob sie ununterbrochen an was anderes dächten. Die aus der Zweiten waren da schon viel bunter, lebendiger, da wurde geredet und diskutiert und gegessen – meistens die teuren Wurstsemmeln des Zugs-Buffet-Mannes – und, klar, Bier getrunken. Die Welt der Züge war ja damals eine reine Männerwelt, damit auch eine Bier-Welt, wir lebten schließlich in der Steiermark. Wurstsemmeln und der berühmte Einsatz-Schilling der Bierflaschen bildeten während meiner Studienzeit kurz meine Haupteinnahmequelle auf der Strecke Graz-Selzthal und retour.
Ich empfand es als wirklich herrlich damals. Es war so, wie man es hin und wieder Gott unterstellte in Frankreich zu haben: Ich residierte in einem Haus, welches heute noch beinahe unverändert erhalten geblieben ist. Es schmiegt sich zwischen Kirche und der Hauptstrasse, “Bad Mitterndorf” wie man sie in weiterer Folge genannt hat. Zu meiner Zeit nannte man die ganze Gegend inklusive Strasse einfach nur “Mitterndorf”.
Schräg gegenüber von uns gab es das Hotel “Zur Post”. Von dort bezog ich hin und wieder ein gar köstliches Eis, lecker! Ja, solche Freuden waren selten und kostbar! Auf der Krone der Umfassungsmauer auf dem Kirchenhügel hatten wir Jungen sozusagen den Stammplatz- ich gehörte ja bereits zu den “Mitterndörflern”. Von hier aus konnte man die Gäste des Hotels genau überwachen, beobachten was sie gerade Interessantes taten, konnte sie mit den zum Platzen hinbearbeiteten Beeren der Knallerbsen- oder Schneebeeren-Sträucher rundum bewerfen, oder versuchen ihre imposanten PKW mit zumeist deutschen Kennzeichen zu treffen. Jeder Treffer ergab ein ganz g’schmackig ausschauendes Kleckschen. Wir lachten. Oder wir füllten unsere, beim “Köstler” gerade erstandenen, nagelneuen Spritzpistolen mit dem Wasser aus dem Weihrauchkessel bei der Altar-Türe der Kirche. Nach der großen Wasserschlacht hatten wir dann ziemlich zu tun, den Geruch des Weihrauchs wieder los zu werden. Warum eigentlich? War dieser geweihte Rauch ein Vermächtnis des Teufels? Wie auch immer, ganz ist es uns eh nicht gelungen. Und so hatte jeder von uns seine ganz persönliche Predigt zu Hause erhalten. Seine ganz persönliche Strafpredigt. Ich kann mich noch an Minka’s Protestgemaunze erinnern, unter dem sie die heimelige Kachelofen-Küche verließ. Meinte sie den Geruch des Weihwassers oder die allzu leichte ermahnende Strafpredigt?