1957 – Leises Erwachen

Fasching 1957. Aus­ge­las­sen fei­er­ten wir, weil man ja fei­ern muss­te. Weil es Tra­di­ti­on war. Weil es sich so gehör­te. Weil es sozi­al war. Und man sich dadurch auch als inte­grier­bar bewies. Also fei­er­ten und tanz­ten wir, volks­tanz­ten wir. Die­se Art des Tan­zes hat­ten wir gera­de erst erlernt. Man nennt sie heu­te noch Volks­tanz. Wobei es neben­säch­lich ist, wel­ches Volk gemeint ist. Unter “wir” mei­ne ich jene Grup­pe von Jugend­li­chen die sich – ohne sich über­haupt zu ken­nen oder sich vor­her abge­spro­chen zu haben – bei der evan­ge­li­schen Jugend zusam­men­ge­fun­den hat­te. Das war der berühm­te Gra­zer “Don­ners­tags-Kreis”. Im Lau­fe der Jah­re schrumpf­te die­ser Kreis sehr stark auf ca. 10 bis 15 Mit­glie­der: Heinz Errath, Wer­ner Acht­schin, “Pur­zi” Nor­bert Enge­le, Horst Grei­mel, der spä­ter zu den Mor­mo­nen abwan­der­te, was uns, den Kern des Krei­ses eini­ge Kämp­fe gekos­tet hat­te, die Gebrü­der Schmidt-Cor­ten, Elfi, Gun­di, Git­ti, auch die Lei­tung die­ses “Krei­ses” schrumpf­te auf Null her­ab. Wir lei­te­ten uns schließ­lich sel­ber. Inklu­si­ve Bibel­stun­den, wie man das damals nann­te. Wir brach­ten uns das Wis­sen rund um die Bibel sel­ber bei. Soweit wir damals konn­ten und fähig waren. Bei der prak­ti­schen Umset­zung stie­ßen wir bald an unse­re Gren­zen. Und als Volks­tanz­kur­se aus­ge­schrie­ben wur­den, mel­de­ten wir uns selbst­ver­ständ­lich umge­hend an. Wir lern­ten also zu tan­zen. So wie es das Volk tat. Wir dach­ten, wäh­rend des lei­sen Erwa­chens, dass wir das Volk sei­en. Und dass das alles, was wir da an Bewe­gung bei­gebracht beka­men, aus dem Her­zen des Vol­kes kam. Dass die­ses “Herz” sich aus unzäh­li­gen Wur­zeln zusam­men­setzt, erfuhr ich erst vie­le Jah­re spä­ter, als ich schon erwacht war. Aber es mach­te Spaß, das Volkstanzen.

Volkstanzkurs 1952
Faschings­fest des Kur­ses “Volks­tan­zen” der evang. Jugend 1957. Die­ses Bild hab ich selbst im Labor vom Schul­kol­le­gen Sei­del ent­wi­ckelt und ver­grö­ßert. Im Hin­ter­grund ist Heinz Errath als Ger­ma­ne zu sehen.

Bis hier­hin gab es ja noch die tra­di­tio­nel­le Tren­nung zwi­schen “Man­derl” und “Wei­berl”, in die­ser Rei­hen­fol­ge. Mit dem Volks­tan­zen aller­dings tra­ten wir erst­mals gemein­sam auf. Zwar erlern­ten wir auch den jewei­li­gen stren­gen  Ritus, der den ein­zel­nen Tän­zen eigen ist, wobei die sym­bol­haf­ten Bedeu­tun­gen der Kör­per­spra­che durch­aus zwar zu erler­nen waren, aber nicht näher erklärt wur­den.
Wir bas­tel­ten uns pro­vi­so­ri­sche Mas­ken und Kos­tü­me aus den unmög­lichs­ten Gegen­stän­den, waren dabei aus­ge­las­sen und hat­ten Ideen, jede Men­ge Ideen, gute, schlech­te, dum­me und blö­de, gute und mehr als gute. Wir stanz­ten sogar die Kon­fet­ti sel­ber. Nur die papie­re­nen Wurf­schlan­gen erwar­ben wir durch nor­ma­len Kauf. Soviel zum Fasching. Gleich dar­auf bekam der Volks­tanz einen viel mäch­ti­ge­ren Geg­ner. Da kam der Gott-sei-bei-uns aus dem Wes­ten, der Rock’n Roll, da kam die gan­ze Wel­le der Unter­hal­tungs­mu­sik aus den USA, schwapp­te über uns hin­weg, wur­de groß­teils in die Welt des “Schla­gers” ein­ge­deutscht, um uns mit aller Macht und allem Ein­fluss zu erfas­sen und uns auf “west­lich” zu trim­men, was immer das auch war. Das Wirt­schafts­wun­der erfass­te auch die Unter­hal­tung und schließ­lich auch die Volks­mu­sik. Wir erfuh­ren so, auf die­se Art, dass wir alle, egal wes­sen Geschlecht wir auch waren, etwas gemein­sam hat­ten: Vor­stel­lun­gen, Idea­le, auch Ideen, Träu­me von unse­rer Zukunft, die wir schon began­nen, gemein­sam zu gestal­ten. Und dass das, was wir da gestal­te­ten vor­sich­tig gesteu­ert und gelenkt wur­de. Nur von wem, das erfuh­ren wir erst viel spä­ter. Noch waren wir ja nicht erwacht.
Anstös­se zum Erwa­chen gab es genug. Allei­ne schon im Rah­men der Inno­va­tio­nen die Mobi­li­tät betref­fend. Da gab es jede Men­ge Auto­mo­bi­le aus den alli­ier­ten Staa­ten und aus der BRD. Und unter all die­sen mon­dä­nen Model­len misch­ten sich auch wel­che aus den kom­mu­nis­ti­schen Län­dern. Da gab es eine Mar­ke namens Sko­da. Furcht­bar bil­lig, furcht­bar ost­eu­ro­pä­isch. Wir erfuh­ren auch, dass man das “S” als “Sch” aus­spre­chen soll­te. Man benö­tig­te schon Mut, sowas zu fah­ren. Man war ja auch abge­stem­pelt, man unter­stütz­te doch damit die Plan­wirt­schaft aus dem Osten! So ein Sko­da stand vor unse­rem Geschäfts­por­tal. Links davon. Er stand Tag für Tag und Nacht für Nacht. Nur am Wochen­en­de, Sams­tag und Sonn­tag, sel­te­ner. Da wur­de damit gefah­ren. Zur wöchent­li­chen Pfle­ge an irgend­ei­nen Bach oder ein Bäch­lein, oder an eine Pfüt­ze, an einen See. Obwohl es nicht sehr gern gese­hen wur­de, hat­te man die­se Putz- und Pfle­ge­plät­ze fak­tisch zum Kauf der Fahr­zeu­ge dazuge“mietet”, hat­te Anspruch dar­auf, wie auch immer die recht­li­che Situa­ti­on war, danach frag­te nie­mand. Mein Vater hat­te die liebs­te Not damit, wenn er zwi­schen Wal­des­rand und Bach einen der Wochen-End-Säu­be­rer-und ‑Wäscher und ‑Put­zer und ‑Polie­rer ertapp­te. Die lie­ßen ja auch alles lie­gen und ste­hen, was nicht mehr gebraucht wur­de. War ja auch alles Natur! Egal ob Papier oder Kunst­stoff! Oder irgend­wel­che Rei­ni­gungs­flüs­sig­kei­ten. Die ver­si­cker­ten ja gleich in der Umge­bung, und waren damit aus dem Sinn! Zurück zum Sko­da: Er gehör­te einem Bank­be­am­ten. Einem Kas­sier. Das war schon was damals!

Skode und wir auf der Koralm
Mein Jugend­freund und Nach­bar Jür­gen mit dem Sko­da auf der stei­ri­schen Koralm.

Zur ers­ten gro­ßen Sko­da-Aus­fahrt wur­de ich ein­ge­la­den. Jür­gen war ganz stolz. Die­ses Auto, dem man sei­ne Her­kunft ja über­haupt nicht ansah, garan­tier­te sei­ne Mobi­li­tät, Fle­xi­bi­li­tät, und damit gehör­te Jür­gen und sei­ne Fami­lie zu einer ganz ande­ren Welt. Zu einer Welt die erst 2017 bis 2020 zu Ende war. Eine Welt deren wirt­schaft­li­che Grund­la­ge gera­de ein­ein­halb Gene­ra­tio­nen dau­er­te. Die Fahrt ging an einem Sams­tag Rich­tung Stainz, Rich­tung Kor­alm. Sie eröff­ne­te mir Per­spek­ti­ven, wel­che mit Sep­pi, dem Sohn unse­res Haus­meis­ters, zusam­men­hin­gen. Da war einer­seits das Wis­sen um die Funk­ti­on eines Mopeds und ande­rer­seits – durch Jür­gens Vater – die Funk­ti­on der Maschi­ne eines PKW. Das Fah­ren selbst war schon ein  posi­ti­ver Fort­schritt. Ich kann mich noch an einen Stre­cken­ab­schnitt der Rück­fahrt erin­nern. Es war schon fins­ter. Man konn­te nur die lan­ge Ket­te der roten Rück­lich­ter und der von den Schein­wer­fern beleuch­te­ten Stra­ßen­ab­schnit­te davor erken­nen. Wenn die Stra­ße gera­de­aus führ­te und zusätz­lich noch berg­ab und gleich wie­der berg­auf, dann war es beson­ders ein­drucks­voll. Was zu lan­gen und inten­si­ven Gesprä­chen führte.

Schnell erwachsen werden, mobil sein dürfen.
Davon träum­te doch jeder in die­sem Alter. Nur mög­lichst schnell groß wer­den, erwach­sen werden.

Die Ket­te der Licht­ef­fek­te war tat­säch­lich beein­dru­ckend, bei­na­he end­los. Eine ein­zi­ge Amei­sen­stra­ße beweg­te sich in Rich­tung Graz. Unun­ter­bro­chen. Wir saßen da auf der Hin­ter­bank des Sko­da und staun­ten und waren still und schau­ten und hör­ten so neben­bei den Gesprä­chen von Jür­gens Eltern zu. Da dran­gen Wort­fet­zen der Unter­hal­tung zu uns. Es ging um tech­ni­sche Details des Auto-Fah­rens, um Kup­peln und Schal­ten vor allem, um Öl und Ben­zin, und ums Brem­sen. Natür­lich das gabs ja auch. Das Brem­sen. Es schien über­le­bens­wich­tig zu sein. Dann gings um die Schön­heit der Amei­sen­stra­ße, um das Erleb­nis das wir erfah­ren durf­ten, durch das Auto er-“fahren” durf­ten. Waren wir doch Bestand­teil die­ser Amei­sen­stra­ße, waren wir doch selbst eine der Amei­sen. Für uns Kin­der stand das Erle­ben auf der Kor­al­pe aller­dings im Mit­tel­punkt, aber für die Erwach­se­nen stand die Kor­al­pe eher als Ziel für das “Äußerln” des Autos fest. Man fühl­te sich frei­er und war gleich­zei­tig viel beschwer­ter. Man war kur­ze Zeit am Ziel­ort und viel län­ger im Auto. Aber es war alles ein ers­tes Mal und damit wert­voll. Die ers­te Aus­fahrt wur­de im Lau­fe der Zeit zur Aus­fahrt in das gro­ße Unbe­kann­te, die Welt.

Klettern auf der Koralm
Wir hat­ten auf der Kor­alm doch tat­säch­lich ein Stück­chen Fel­sen zum Klet­tern gefunden…

Unse­re Welt war viel, viel klei­ner. Ein Stück Fel­sen, drei Meter hoch etwa, war unse­re Welt an die­sem Sams­tag. In der Luft lag der Geruch von Wie­sen­kraut und ver­rot­ten­dem Holz, wir spiel­ten “Klet­tern” – vor und für die Kame­ra. Ich hat­te mir eine sol­che erar­bei­tet. Durch das Lie­fern von soge­nann­ten “Fas­sun­gen”, das heißt von den monat­li­chen Wün­schen unse­rer Kun­den. Erwor­ben hat­te ich mei­ne Traum-Kame­ra von mei­nem Foto­gra­fen-Meis­ter in der Münz­gra­ben­stra­ße. Er ent­wi­ckel­te nicht nur die Fil­me, son­dern ver­sorg­te mich mit guten Tipps und ver­such­te mir das Foto­gra­fie­ren näher­zu­brin­gen. Der Foto­ap­pa­rat war ein fort­schritt­li­ches Modell mit Belich­tungs- und Ent­fer­nungs­mes­ser, eine Bal­da­ma­tic. Sen­sa­tio­nell. In wei­te­rer Fol­ge kamen noch diver­se Fil­ter hin­zu, so etwa ein Gelb­fil­ter oder die UV-Fil­ter. Man­che Fil­me ent­wi­ckel­ten wir im Labor eines Mit­schü­lers sel­ber und ver­grö­ßer­ten die Bil­der auch.

In der Steilwand
Ent­stan­den anläss­lich des Aus­flugs auf die Kor­alm. Ver­rä­te­risch sind auch die Wol­ken am Hori­zont. Abge­se­hen vom Kletterstil.

Man sieht, wir waren ech­te Foto-Freaks. Das war modern damals in den 1950ern.  Es war nicht nur modern, son­dern auch viel schwie­ri­ger. Beim Foto­gra­fen muss­te man eine Film­pa­tro­ne erste­hen. Die­se war zunächst ein­mal manu­ell ein­zu­le­gen. Auf rich­ti­ge Art und Wei­se selbst­ver­ständ­lich. Mög­lichst im Schat­ten, am Bes­ten blind unter einer Decke. Dann muss­te man sich noch über­le­gen, was man da abbil­den woll­te. Man muss­te das Foto zunächst im Kopf haben, zunächst kon­zi­pie­ren, man muss­te wis­sen, was man woll­te und wie man dort­hin kommt, zu dem Bild, das man spei­chern woll­te für eine hal­be Ewig­keit. Den belich­te­ten Film – übli­cher­wei­se 20 oder 36 Bil­der im Klein­bild­for­mat –  muss­te man zum Foto­gra­fen brin­gen und ent­wi­ckeln las­sen und man muss­te natür­lich von den Bil­dern, die etwas “gewor­den” sind, Kopien anfer­ti­gen las­sen, in der gewünsch­ten Grö­ße, auf Papier, das einem gefiel oder wor­auf die Bil­der beson­ders schön aus­schau­ten.
Ich ver­dan­ke mei­nem Vater sehr viel. Er hat mir den Blick geschärft, den Scharf­blick für Zusam­men­hän­ge, fürs Tun und Las­sen zunächst ein­mal im Bereich des Natür­li­chen, im Bereich der natür­li­chen Umge­bung, des Umfel­des in dem wir leben. Damit hat er mir auch den Blick eines Foto­gra­fen gege­ben. Wenigs­tens einen klei­nen Teil davon. Es war ein ana­lo­ges Bli­cken. Aber die­ses Bli­cken war ele­men­tar, es ging durch und durch und es drück­te aus.

Am Ziel auf der Koralm
Ich bin am Ziel!
Jürgen am Ziel auf der Koralm.
Wo ist der Nächste?

Von Psy­cho­lo­gie hat­ten wir damals noch kei­ne Ahnung, die­ses Fach wur­de uns ja erst in der sie­ben­ten Klas­se der “Mit­tel­schu­le” bei­gebracht. Wobei ich fai­rer­wei­se geste­hen muss, schon in der zwei­ten Klas­se die “Traum­deu­tung” von Sig­mund Freud stu­diert zu haben. Das Taschen-Buch hat­te ich aus der städ­ti­schen Büche­rei. Klar, dass die­ses Stu­di­um ande­re Bücher, von C.G. Jung etwa, nach sich zog. Vor allem brach­te das Lesen und das dar­über-sich-Gedan­ken-machen eine Viel­zahl von Vor­tei­len mit sich. Vor allem im Hin­blick auf das Erwa­chen. Und das ver­spür­te ich ganz inten­siv. Es tat sich was in mir und rund um mich her­um. Irgend­et­was ver­än­der­te sich, nicht phy­sisch. Die­ses Etwas lag eher im Bereich des Geis­ti­gen, so begriff ich es. Kurz: Es spiel­te sich ab…

Jürgen, Vater und Skoda
Jür­gen, sein Vater & der Sko­da aus der dama­li­gen CSSR.

Es spiel­te sich auch auf der Fahrt zur Kor­al­pe an die­sem Sams­tag ab, es spiel­te sich auf der Kor­al­pe ab und auf der Fahrt zurück. Es waren kei­ne Wech­sel­bä­der, wie man es damals lesen konn­te. Wie man es Lesern damals weis­ma­chen woll­te. Es war eine kon­ti­nu­ier­li­che Ver­än­de­rung, ver­bun­den mit Wis­sen und Erfah­run­gen. Bei­des erwor­ben schon viel frü­her und ver­knüpft jetzt. Nicht mit einem Mal, also explo­siv, son­dern lang­sam und gemäch­lich. Die Lich­ter, wel­che uns auf­ge­hen soll­ten, die­se Lich­ter kamen erst viel spä­ter. Die Basis jeden­falls wur­de bereits gefes­tigt, die Säme­rei­en gin­gen auf. Sie spros­sen und erblüh­ten man­cher­orts, manch­mal heim­lich und bezau­bernd schön, manch­mal ganz offen, aber immer ohne Über­ra­schung. Die Basis bekam immer neue Nah­rung. Ich weiß nicht mehr wie ich zu die­sem Bild gekom­men bin, was ich mir dabei gedacht hat­te. Aber mög­li­cher­wei­se habe ich an das Jetzt gedacht als ich den alten, ver­mo­dern­den Baum­stamm vor mir sah. Da hab’ ich dann instink­tiv die Ein­stel­lun­gen durch­ge­führt und den Aus­lö­ser gedrückt.

Wurzeln auf der Koralpe
Knor­rig, ver­mo­dernd. Wur­zeln eben.

Zum Erwa­chen gehört auch die­se Erkennt­nis. Dass näm­lich ein Jemand auf den “Aus­lö­ser” drückt. Der Aus­lö­ser wie­der­um löst dar­auf­hin unge­ahn­te Pro­zes­se aus. In Echt­zeit. Dabei wird vie­les kla­rer. Meis­tens im Kopf, in dem was dort eigent­lich sein soll­te. Der­je­ni­ge der aus­ge­löst hat, ist man sel­ber, Freun­din­nen oder Freun­de, Bekann­te, Eltern oder deren Bekann­te, Ver­wand­te, Geschwis­ter, Frem­de, die einem nur kurz nahe kom­men, Tie­re, Pflan­zen, meteo­ro­lo­gi­sches Gesche­hen – schlicht: Bestand­tei­le des Seins. Aus­ge­löst wird Unaus­lösch­li­ches. Unwi­der­ruf­li­ches. Der unver­wech­sel­ba­re Duft der Land­jä­ger und des fri­schen Brots wäh­rend der Mit­tags­pau­se bei der Land­ar­beit im Stif­ting­tal etwa. Die Groß­el­tern waren schon von uns gegan­gen, hat­ten uns zurück­ge­las­sen, konn­ten sicher sein, dass wir “es”, das Sein, unser Leben, schon allei­ne schaf­fen wür­den. Und wir schaff­ten es auch. Mit Leich­tig­keit, mit Freu­de und sogar mit viel Ver­gnü­gen. Sie hat­ten uns – einer nach dem ande­ren – ver­las­sen. So sagt man noch immer.

Frisches Brot und Landjäger
Mit­tags­pau­se bei der Land­ar­beit in Stif­ting – Fri­sches Brot und Landjäger.

Die Land­ar­beit in ihrem ehe­ma­li­gen Heim­be­reich Stif­ting hat mir sehr viel Freu­de berei­tet. Wenn ich allei­ne arbei­ten muss­te, hat­te ich viel Zeit mir Gedan­ken dar­über zu machen, war­um ich das tat, was ich gera­de tun muss­te. Ob das Feld‑, Wald- oder Wie­sen-Arbeit war oder irgend­wel­che ande­ren Tätig­kei­ten in Haus und Hof. Ich tat das sehr ger­ne, obwohl mir klar war, dass ich das sicher nicht mein Leben lang tun wür­de. Nur, was ich eigent­lich woll­te, wuss­te ich noch nicht. Zunächst ein­mal ging ich in die Mit­tel­schu­le, in das Bun­des-Real­gym­na­si­um “Pes­ta­loz­zi”. Die­ses war eine sehr inter­es­san­te Schu­le. Nicht nur des­we­gen, weil sie sich in unmit­tel­ba­rer Nähe unse­rer Volks­schu­le, der “Wie­land­schu­le” befand, im Häu­ser­block zwi­schen Wie­land­gas­se und Kees­gas­se. Am Bun­des-Real­gym­na­si­um gab es Fächer, die sofort mein Inter­es­se weck­ten und eini­ge weni­ge, die ich als nicht so wich­tig erach­te­te. Alle Fächer die mit Spra­chen Berüh­rungs­punk­te auf­wie­sen, waren inter­es­sant für mich. Vor allem jenes Fach das man mit “Deutsch” bezeich­ne­te, wel­ches Lite­ra­tur­wis­sen­schaft und die Geschich­te und das Wer­den der deut­schen Spra­che beinhal­te­te, vor­ge­tra­gen von Prof. Bir­ker, der uns auch ver­such­te Ita­lie­nisch bei­zu­brin­gen. Da war auch das Fach Geschich­te. Fes­selnd. Span­nend. Oder Geo­gra­phie inklu­si­ve Geo­lo­gie mit Klas­sen­vor­stand Prof. Knaus. Latein mit Prof. Span­bau­er. Leid tut es mir um ein Fach, das man als “bild­ne­ri­sche Erzie­hung” bezeich­net hat. Wir beka­men da ein­mal die Auf­ga­be, ein Schloss zu malen, mit allen Licht- und Schat­ten-Effek­ten, die uns auf­fie­len und uns wich­tig erschie­nen. Ich ent­schloss mich für die Wie­der­ga­be eines Gemäl­des von Neu­schwan­stein. Es gelang mir außer­or­dent­lich gut. So gut, dass mich mein Unleh­rer in die­sem Fach abkan­zel­te und behaup­te­te, dass die­se Zeich­nung von mei­nem Vater stamm­te. Kin­der könn­ten das näm­lich gar nicht. Punk­tum und Schluss. Nicht genü­gend. Seit damals inter­es­sier­te mich die­ses Fach ver­ständ­li­cher­wei­se nicht mehr. Ich kann bis heu­te nicht zeich­nen und malen. Dafür war ich umso bes­ser in “Dar­stel­len­de Geo­me­trie”. Außer­dem wid­me­te ich mich aus­ser­schu­lisch natür­lich umso inten­si­ver der dar­stel­len­den und bil­den­den Kunst. Was mir im End­ef­fekt mehr gebracht hat, als Unter­richt und Studium.

Schlammiges in Stifting
Schlamm­schlacht mit Freund Heinz Reip, beim Aus­ste­chen eines Ent­wäs­se­rungs­gra­bens. Im Hin­ter­grund sieht man das zum Trock­nen auf­ge­häng­te Gras. Wir hat­ten Spaß an der Arbeit. Darf man das?

Ich ent­deck­te Cas­par David Fried­rich, Paul Klee oder die Krea­tio­nen in der Höh­le von Las­caux, Hie­ro­ny­mus Bosch, Giot­to, Raf­fa­el, Cara­vag­gio, Rem­brandt, die Ver­zau­be­rung durch das male­ri­sche Aner­kennt­nis von Licht und Schat­ten, den Wil­len von Michel­an­ge­lo Buo­na­rot­ti. Die Aus­ein­an­der­set­zung mit dem, was da von Eini­gen geschaf­fen wur­de und was in Muse­en auf­ge­ho­ben wur­de, lief lang­sam an, kos­te­te viel Zeit. Letzt­lich ein Leben. Solang hat es näm­lich bis zum Kirsch­kern in Dres­den gedau­ert… Mein Kunst-Unleh­rer in Graz hat es nicht geschafft, mir in alt­her­ge­brach­ter Tra­di­ti­on das Inter­es­se und die Nei­gung zu ver­gäl­len. Sogar das Bild von der Schlamm­schlacht in Stif­ting weckt in mir künst­le­ri­sche Ambi­tio­nen. Der Moment der Akti­on, die abweh­ren­de Kör­per­hal­tung von Heinz, der halb aus­ge­ho­be­ne Ent­wäs­se­rungs­gra­ben, der Spa­ten, der gera­de noch gebraucht wur­de und im Gra­ben nur pau­siert. Der ande­re Spa­ten der etwas wei­ter vom Gra­ben fest in die Erde gerammt wur­de, um der Aggres­si­on frei­en Lauf las­sen zu kön­nen. Das alles hät­te auch ein Gemäl­de mei­ner­seits sein kön­nen. Es wur­de eine Fotografie.

Endstation Graz-Andritz
Stra­ßen­bahn-End­sta­ti­on Graz-Andritz. Der “Kreis” war­tet auf die nächs­te Tram.

Natür­lich hät­te ich lie­bend ger­ne gemalt oder gezeich­net. Abge­se­hen vom Ein­fluss bezie­hungs­wei­se vom Schick­sal mei­nes Unleh­rers war die Welt vol­ler Foto­gra­fien, wo man auch hin­schau­te: Fotos. Bän­de von Time-Life. Auch zu Natio­nal Geo­gra­phic beka­men wir Zugang. Da gab es “epo­ca”, eine groß­for­ma­ti­ge Zeit­schrift auf hohem Niveau. Und natür­lich dis­ku­tier­ten wir. Über die ver­schie­de­nen Sti­le und natür­lich über die Arten, von der Repor­ta­ge über die Kriegs­be­richt­erstat­tung bis hin zur Ero­tic Art. Ich habe sehr ger­ne foto­gra­fiert. Ich habe immer wie­der ver­sucht mit der Kame­ra zu malen. Und es ist mir manch­mal auch gelun­gen. Immer dann, wenn ich mir Zeit gelas­sen habe. Zeit zur Kom­po­si­ti­on, Zeit zum Aus­druck. Hin und wie­der hab ich mir über­legt, ob das nicht ein Beruf für mich gewe­sen wäre, aber Malen lag mir näher, zumin­dest in jenen Jah­ren des Erwa­chens. Und dabei wur­de mir klar, dass ich ein ande­res Medi­um benötigte.

Kriegerdenkmal in Klöch in der Ost-Steiermark
Das Wein­fest in Klöch. Sogar dort stell­ten wir das Kriegs­ge­sche­hen in den Mit­tel­punkt. Wir woll­ten und wol­len kei­nen Krieg mehr. Und all das, was zu einem sol­chen führt.

Ich habe es tat­säch­lich ver­sucht: Jah­re­lang habe ich es durch­ge­hal­ten nicht zu foto­gra­fie­ren, spä­ter habe ich es ver­sucht mit Bewegt-Bild, mit Film und Video, zunächst indem ich gefilmt habe und dar­auf ohne zu fil­men, aber Erfül­lung habe ich kei­ne gefun­den oder bekom­men. Weder Foto­gra­fie noch Bewegt-Bild ist mir in den Abs­ti­nenz-Pha­sen abge­gan­gen. Wobei ich aller­dings sagen muss, dass mich die Tech­nik schon fas­zi­niert und inter­es­siert hat. Sogar sehr. Aber mein Inter­es­se gehör­te anschei­nend oder viel­leicht sogar schein­bar dem, was man als “Regie” bezeich­ne­te. Da wäre ich wie­der bei Carl Möh­ner ange­kom­men oder beim Gedicht “Auf da Ålm” aus der Volks­schul­zeit. Denn eines wur­de mir klar: Schon die ers­te Text­ver­ar­bei­tung namens “Word­Star” war für den Digi­ta­li­sie­rungs­pro­zess ele­men­tar uner­setz­bar und deren Eli­mi­nie­rung nicht mehr vor­stell­bar, vor allem für mich. Mei­ne Bin­dung an den Text, an die Ver­ur­sa­cher der Tex­te, die bedin­gungs­lo­se Bin­dung an den Net­to-Inhalt ohne jede Ver­füh­rung durch per­sön­li­che Pro­fi­lie­rung und Ähn­li­chem, durch Anwei­sun­gen von Außen­ste­hen­den – das wars. Aber das war mir zur Erwa­chens­zeit noch nicht ganz klar.

Weingut Familie Grill in Klöch
Auf dem Wein­gut der Fam. Grill in Klöch in der Ost-Steiermark.

Mir war auch nicht ganz klar, dass es auf die Details eines Abbil­des ankommt. Dass auf Grund die­ser Details erst ein Bild mit Sel­ten­heits­wert ent­ste­hen kann. Wie das Bild vom Hän­de­schüt­teln in Klöch. Es bekommt sei­nen Wert nicht des­halb weil wir uns artig und gut erzo­gen Händ­chen geben. Oh, nein! Es ist die ein­zi­ge Auf­nah­me, die es von mir gibt, wo ich beklei­det bin mit einem Original-“Lodenjanker” vom Loden­wal­ker auf der Ram­sau am Fuße des Dach­stein. “Loden­jan­ker” ist ober­stei­risch und bedeu­tet “Jop­pe aus Loden” – auf gut All­ge­mein-Deutsch. Die­se Jop­pe, die­ser Jan­ker liegt mir sehr am Her­zen, ver­bin­det er sich doch ganz inten­siv mit dem Erwa­chen. Ich bin kurz zuvor von Wei­ßen­bach bei Haus im Enns­tal mit einem dop­pel­sit­zi­gem Lohner-“Sissy”-Moped auf einem wild­ro­man­ti­schen, tief ver­schnei­ten Weg nach Rös­sing in die Ram­sau gefah­ren, mit dem Vor­satz beim “Loden­wal­ker” eine sol­che Jop­pe, einen ech­ten Loden­jan­ker zu erste­hen. Der Weg führ­te an Erd­py­ra­mi­den vor­bei, die sich einen “Find­ling”, eine Stein­plat­te, als Kopf­be­de­ckung auf­ge­setzt hat­ten. Dazwi­schen schlän­gel­te sich der Wei­ßen­bach durch Eis­kas­ka­den, gur­gel­te und schlurf­te, sorg­te für das win­ter­li­che Käl­te­kon­zert. Heu­te führt eine gut aus­ge­bau­te Stra­ße hin, damals war das ein Weg, kaum befah­ren. Wer in die Ram­sau woll­te, fuhr am Bes­ten über Schlad­ming. Ich fuhr mit mei­nem Chauf­feur sozu­sa­gen am direk­tes­ten Weg, am geheims­ten Weg hin. Und kauf­te. Sie war blau, die Jop­pe. Ich auch. Der Kauf muss­te näm­lich tüch­tig begos­sen wer­den. Noch dazu war dies ja ein Kauf direkt beim Pro­du­zen­ten, und den kann­te man! Der Loden­wal­ker war und ist heu­te noch ein Begriff. So fei­er­ten wir also und haben aus vol­ler Brust gesun­gen und Musik gemacht und ein G’stanzl nach dem ande­ren gebo­ten und ein “Schlad­min­ger” Bier nach dem ande­ren getrun­ken. Wie man es damals dort gewohnt war. Ich benö­tig­te drei Tage und vier Näch­te um wie­der zu allen Sin­nen zu kommen.

Ein Erinnerungsfoto an Klöch
Zur Klö­cher Erin­ne­rung. Ich ste­he mit schwe­rem Kopf ganz hin­ten links, die Haus­frau an mei­ner Seite.

So schlimm war das Wein­fest in Klöch nicht. Es ging da schon viel gesit­te­ter zu. Was wir auch aßen, es hat­te als Grund­la­ge irgend­was mit Wein­trau­ben oder Wein im All­ge­mei­nen zu tun. Und vom Trin­ken will ich gar nicht schrei­ben. Was da im Mit­tel­punkt stand ist ja wohl jedem klar. An lebens­er­hal­ten­des Was­ser kann ich mich aller­dings nicht erin­nern. An die ver­schie­de­nen Wei­ne jeden­falls schon. Immer­hin, dass es einen “Abgang” gibt, weiß ich seit damals. Dass der Genie­ßer nicht nur “Rot” oder “Weiss” kennt, so wie cir­ca 80% der Bevöl­ke­rung damals, wur­de uns auch mit­ge­teilt. Sowas brennt sich ein. Der berühm­te öster­rei­chi­sche Wein­skan­dal lag ja damals noch in wei­ter Fer­ne. Dazu muss der kuli­na­ri­sche Ken­ner wis­sen, dass ich ja aus einer Gegend kom­me, in der Babys mit Bier im “Fla­scherl”, dem stei­ri­schen Klein­kind-Trink­ge­fäß, auf­wach­sen, wo Bier ja als Grund­nah­rungs­mit­tel aner­kannt ist. Bier und Kern­öl, damit wächst ein ech­ter Stei­rer auf und dar­an wird ein ech­ter Stei­rer auch erkannt. Abge­se­hen von der “Krach­le­der­nen” damals. Aber die hat­ten wir ja nur bis zur Mit­tel­schu­le an. Denn dann tru­gen wir ja als Zei­chen dass wir uns schon auf dem Wege des Erwach­sen­wer­dens befan­den, scham­haft Stoff oder meis­tens Stoff über den Beinen.

Der Lippenjakl" - heute in der Gegend der Süd-Autobahn
Unser “Lip­pen­jakl” – Hier atme­ten wir Frei­heit, nah­men die­se löf­fel­wei­se zu uns…

In der West-Stei­er­mark, hoch über dem Tei­gitsch­gra­ben, gab es einen zwei­ten Schwer­punkt unse­rer gemein­sa­men Pro­blem-Bewäl­ti­gung. Die Pro­ble­me des Erwa­chens wur­den von uns selb­stän­dig bewäl­tigt, durch den Umgang mit uns selbst, dadurch, dass wir mit­ein­an­der rede­ten, kom­pro­miss­los, dass wir mit­ein­an­der und durch­ein­an­der Erfah­rung sam­mel­ten und viel von­ein­an­der hör­ten und erfuh­ren. Wir wan­der­ten stun­den­lang unver­zagt was auch immer gera­de für ein Wet­ter vor­herrsch­te von der Bahn­sta­ti­on Gais­feld-Krot­ten­dorf durch den Tei­gitsch­gra­ben und die Tei­gitsch­klamm und dann durch den Wald hügel­auf­wärts zum “Lip­pen­jakl”. Das Gehöft schmieg­te sich an einen stei­len Hang. Es war ein alter west­stei­ri­scher Bau­ern­hof mit gro­ßem Wohn‑, Koch- und Ess­be­reich und vie­len Zim­mern im ers­ten Stock, pro­vi­so­risch als Mas­sen­un­ter­kunft her­ge­rich­tet. Aber urge­müt­lich und hei­me­lig. Ein Ort zum Wohl­füh­len. Kusche­lig. Ein altes Press­haus war noch dabei. Ori­gi­nal. Rechts vom Hof. Der Saft der hier gepresst wur­de rann durch eine höl­zer­ne Röh­re in den Kel­ler des Press­hau­ses in die bereit­ge­stell­ten Fäs­ser. Nahe­bei stand auch ein grö­ße­rer Schup­pen. Vor­wie­gend für Heu. Man hat­te eine herr­li­che Aus­sicht in Rich­tung Osten.

Vor dem Lippenjakl
Elfi, Jörg und ich vor dem Lip­pen­jakl. Ein alter Bau­ern­hof wel­cher der evan­ge­li­schen Kir­che gehör­te. Rechts das Dach des alten Presshauses.

Hier ver­brach­ten wir etli­che Wochen­en­den, brie­ten uns Vor­läu­fer von Pom­mes-fri­tes, lie­ßen es uns gut gehen, genos­sen Son­ne, Licht und Luft und die frü­hen Mor­gen­stun­den, atme­ten ganz tief durch, leb­ten unse­re Frei­heit und jeden Moment unse­rer Exis­tenz. Rede­ten auch dar­über und rie­fen uns vie­les gegen­sei­tig ins Bewusst­sein. Wir träum­ten in der Wie­se lie­gend vor uns her, aber immer vor­ein­an­der und mit­ein­an­der. Wir sag­ten, was wir tun woll­ten und was nicht, was wir moch­ten und was nicht. Oder was wir viel­leicht noch nicht moch­ten, weil wir uns nicht sicher waren. Und dann gab es dort oben die ster­nen­kla­ren Näch­te. Licht­ver­schmut­zung war damals noch ein Fremd­wort. Man konn­te noch die Milch­stra­ße sehen, die ein­zel­nen Stern­bil­der, den gro­ßen und den klei­nen Wagen, gro­ßen und klei­nen Bär, Cas­sio­peia, den Polarstern.

Lagerfeuer in der Ruine
Pur­zi, Heinz, Elfi und Jörg beim Lager­feu­er in der Rui­ne über der Teigitschklamm.

Wir saßen da, vor uns brann­te ein klei­nes Lager­feu­er, jeder hat­te sich eine Fla­sche Bier mit­ge­bracht – wir waren ja schließ­lich erwach­sen, zumin­dest fühl­ten wir uns so – aber ansons­ten war es still. Das Feu­er knacks­te man­ches­mal, man­ches­mal knack­ten auch irgend­wel­che Äste im Wald, schrie ein Käuz­chen, husch­te oder trip­pel­te oder ging irgend­ein Tier vor­bei. Wir hör­ten hin, waren lan­ge still, gin­gen in uns. Hin und wie­der waren wir etwas lau­ter, erzähl­ten uns etwas Lus­ti­ges, etwas, was uns wider­fah­ren war, oder was wir beob­ach­tet hat­ten, etwas was uns auf­ge­fal­len war. Manch­mal waren wir sehr ernst. Manch­mal gin­gen unse­re Gesprä­che in die Tie­fe, waren vol­ler Ver­ant­wor­tung und vol­ler Bewusst­sein über Ver­ant­wor­tung. Ging das Feu­er aus, gaben die mit­ge­brach­ten Fla­schen nichts mehr her, mach­ten wir uns wie­der auf zum “Lip­pen­jakl”, nach Hau­se. Wir benö­tig­ten das Licht der Taschen­lam­pen nur zur eige­nen Sicher­heit. Den Weg von den Res­ten der Rui­ne hoch über der Tei­gitsch­klamm kann­ten wir in- und aus­wen­dig, in stock­fins­ters­ter Nacht, im Schlaf. Es war ja eigent­lich kein Weg, es war dich­tes Gestrüpp, durch­wach­sen von Bäu­men jeden Alters. Nur knapp vor unse­rem Ziel begann ein kur­zes Stück Weg und dann gings ker­zen­ge­ra­de die Wie­se hin­ab zu unse­ren Feld-Betten.

Lippenjakl Entertainment-Show
Unse­re Blö­del-Aktio­nen waren berühmt und hal­fen uns allen über so man­che Schwie­rig­kei­ten hinweg.

Da fie­len wir dann in unse­re Träu­me, in tie­fen, fes­ten, erhol­sa­men Schlaf. Meis­tens war die­ser Schlaf nur kurz. Vor allem bei Schön­wet­ter. Die Son­nen­auf­gän­ge waren – ähn­lich wie in der Burg Neu­berg bei Hart­berg – sen­sa­tio­nell und muss­ten erlebt wer­den. Vor uns lag der gan­ze Osten und Süden der Stei­er­mark. Die Son­ne kam als blut­ro­te Schei­be hin­ter dem Hori­zont im Osten her­vor, ange­kün­digt von ein­zel­nen zunächst zag­haf­ten Vogel­stimm­chen. Etwas spä­ter waren sie schon bestimm­ter, noch etwas spä­ter wur­de die mitt­ler­wei­le blen­dend gel­be Schei­be beglei­tet von einem gewal­ti­gen Orches­ter jubi­lie­ren­der Vogel­stim­men. Es waren jene Minu­ten, die uns in ihren Bann sogen. Wir waren wie­der ein­mal still und gaben uns hin.

Am Packer Stausee mit Transistorradio
Von links: Unbe­kannt, Gun­di, Gün­ther, Wer­ner. Am Anle­ge­steg der Hüt­te am Packer Stau­see. Im Mit­tel­punkt mein Transistor-Radio.

Zum Hin­ge­ben hat­te ich zu die­ser Zeit noch etwas. Ein bat­te­rie­be­trie­be­nes Tran­sis­tor-Radio! Jetzt konn­te man die neu­es­ten Mel­dun­gen, die aktu­ells­te Musik über­all­hin mit­neh­men. Man war nicht mehr abge­na­belt vom Welt­ge­sche­hen. Man war MOBIL. Dem­zu­fol­ge nahm ich das Radio über­all­hin mit, wo es nur ging. Es war ja nicht allein das Auto oder der Auto­bus. Es war das RADIO. Das Neu­es­te vom Neu­es­ten konn­te man über­all emp­fan­gen. Auf Mit­tel­wel­le. Oder auf Lang­wel­le oder Kurz­wel­le. Auf UKW funk­te es nur teil­wei­se, war noch nicht aus­ge­baut. Aber das küm­mer­te uns damals noch nicht. Wo die Lieb­lings­sen­der nicht zu emp­fan­gen waren, such­te man sich einen ande­ren Sen­der und wenn es Radio Tira­na war! Da konn­te man die “Stim­me Chi­nas” hören! Wir emp­fin­gen die Welt! Voice of Ame­ri­ca, klar. Was gab es Schö­ne­res als in der Son­ne zu lie­gen, unter sich die Was­ser-Wel­len plät­schern zu hören und neben sich die Radio-Wel­len. Jene Wel­len, die von Ereig­nis­sen und Vor­komm­nis­sen berich­te­ten, von denen wir gar kei­ne Ahnung hat­ten, dass sie sich ereig­ne­ten oder ereig­net hat­ten. Wir emp­fan­den dabei kei­nen Druck irgend­wo dabei sein zu müs­sen oder auch nur davon zu wis­sen. Wenn es uns genug zu sein schien, schal­te­ten wir ab, betä­tig­ten die Aus-Tas­te. Und wid­me­ten uns den schö­ne­ren Sei­ten unse­rer Exis­tenz. So ein­fach war das damals.

In der Hütte am Packer Stausee
Von links: Gun­di, ich mit Melo­ne, Unbe­kannt mit 2Li­ter-Bier­krug, wei­te­rer Unbe­kannt, Elfi und Wer­ner. Zu Gast in der Hüt­te einer Bur­schen­schaft am Packer Stausee.

Die­ses Tran­sis­tor-Radio wird noch öfter auf­tau­chen. Auf den alten Fotos. Es liegt ja auch in der Natur der Din­ge. Die­se Gerä­te haben etwas aus­ge­löst, wovon wir damals nicht die gerings­te Ahnung hat­ten. Es war span­nend, was wir da zu hören beka­men. Gegen­sei­ti­ge Vor­wür­fe, offen­sicht­li­che Unwahr­hei­ten, bes­ser geschrie­ben: Lügen. Lob­hu­de­lei­en, die nicht mehr aus­zu­hal­ten waren. Das ging so wie mit den Wel­len. Auf und ab, sehr oft sehr stark und dann war die Dünung wie­der sanft. Kaum ein Erwach­se­ner ließ sich übri­gens auf Mei­nungs-äuße­run­gen oder Dis­kus­sio­nen ein. Es sei denn, es ging um irgend­wel­che musi­ka­li­schen Geschmä­cker. Wir waren damals viel unter­wegs. Im Rah­men des “Krei­ses”, wie wir uns sel­ber nann­ten, kris­tal­li­sier­te sich ein “Neben­kreis” her­aus, der ziem­lich aktiv war, den vor allem alles inter­es­sier­te, was mit Kunst und Kul­tur, aber auch mit dem poli­ti­schen Gesche­hen zu tun hat­te. Zum Bei­spiel beschäf­tig­te uns die Tat­sa­che sehr, dass es so vie­le Gra­ze­rin­nen und Gra­zer gab, wel­che die Stra­ßen­sei­te wech­sel­ten, wenn ihnen ein far­bi­ger Besat­zungs­sol­dat ent­ge­gen­kam. Und davon gab es – bis hin zu den Gurk­has mit ihren Dol­chen – vie­le. Und da das Öster­reich von damals vier­ge­teilt war und sich kaum jemand über die Sem­me­ring-Gren­ze in den sowje­ti­schen Teil, also nach Osten, nach Wien getrau­te, ergrif­fen wir die ers­te Gele­gen­heit nach dem Abzug aller frem­den Sol­da­ten in unse­re Bun­des­haupt­stadt zu fah­ren, um zu sehen, wie es sich dort leben lie­ße. Wir waren erst 12 damals und kehr­ten ziem­lich depri­miert zurück. Wahr­schein­lich ver­hielt es sich umge­kehrt genau­so: Wel­cher “Wie­ner” getrau­te sich damals sei­ne Stadt zu ver­las­sen? Wien war doch umge­ben von der sowje­ti­schen Besat­zungs­zo­ne. Als “Wie­ner” köchel­te man im eige­nen Saft vor sich hin. Das hat bis heu­te noch Nach­wir­kun­gen. Ob die “Wie­ner” – abge­se­hen von den “Zuzüg­lern” von außer­halb – dar­aus wohl noch Kon­se­quen­zen ziehen?

Das Wiener Parlament
1959. Unser “Kreis” vor dem Par­la­ment. 3. von links: Hubert Lind­ner, jener der den Kreis lei­te­te. Ganz rechts: Horst – der spä­te­re Mor­mo­ne, vor ihm: Heinz Errath, davor: Nor­bert “Pur­zi” Enge­le im modi­schen blau­en Perlon-Mantel.
Die Wiener Ringstraße
Die Ring­stra­ße vom Par­la­ment in Rich­tung Neue Hof­burg. Sie war damals noch beid­sei­tig befahr­bar. Der Ver­kehr berei­te­te kei­ne Sor­gen. Wien war noch ziem­lich ver­schla­fen damals…
Blick von der Gloriette
Der “Kreis” blickt von der Glo­ri­et­te in Schön­brunn auf Wien hinab.
Die Gloriette in seiner damaligenPracht.
Es war schon ein Auf­wand für uns Öster­rei­cher die Glo­ri­et­te so zu gestal­ten, wie sie eigent­lich von Anfang an gedacht war. Die Auf­gän­ge zum Wien-Blick prä­sen­tier­ten sich nach der Besat­zungs­zeit als eine Art Kloa­ke. Es roch auch ganz streng. Der Ver­fall schien nach uns zu grei­fen. Die­se vie­len Grif­fe haben wir ziem­lich erfolg­reich abge­wehrt. Wir sind noch immer dabei.
Der Neptunbrunnen in Schönbrunn
Der Nep­tun­brun­nen damals – Wir stan­den davor und schau­ten. Wir wuss­ten nicht, was wir davon hal­ten soll­ten. Plät­schern­des Was­ser. Sehr viel Flach­heit. Vie­le, vie­le Fra­ge­zei­chen. Verzagtheit…
Die Obere Alte Donau - 1957
Das Ange­li­bad an der Obe­ren Alten Donau – 1957. Für uns war das ein bes­se­rer Schot­ter­teich. Ein lan­ger und stei­ni­ger Weg bis zum Heute.
Die Floridsdorfer Kirche im Rücken von Heinz und Hubert
Heinz und Hubert vor der Flo­rids­dor­fer Kir­che. Die Bei­den könn­te man neh­men und ins Heu­te trans­fe­rie­ren. Die Umge­bung hat sich in keins­ter Wei­se ver­än­dert (Goog­le Maps: Wien, Öster­reich, An der Obe­ren Alten Donau 54). Den­noch: Zwei Kul­tu­ren pral­len auf­ein­an­der. Noch immer. Wir wuss­ten damals noch nicht, dass es mehr als 50 Jah­re dau­ern soll­te bis die­se Stadt wie­der Vita­li­tät ein­ge­haucht bekom­men würde.
Der Floridsdorfer Schotter steckt in vielen alten Wiener Siedlungshäusern.
Die Obe­re Alte Donau war damals tat­säch­lich nur ein Schot­ter­teich und ein Fit­ness-Cen­ter für Wie­ner Kanu­ten. Da waren sogar die Nach­fah­ren der alten mon­ar­chi­schen Mari­ne ange­sie­delt, mit ihren all­jähr­li­chen Marine-Spielchen.
Das Able­gen mit einem Kanu geht ja so halb­wegs, aber das Anle­gen ent­wi­ckel­te sich zu einem Kampf zwi­schen Pur­zi, dem Kanu und der Obe­ren Alten Donau.
Die Fahrt durch die Schleuse zum Donaukanal.
Da war die Fahrt durch die Schleu­se zum Donau­ka­nal und wie­der zurück schon viel mühe­lo­ser und beque­mer. Auch hier hat es kei­ne Ver­än­de­run­gen gege­ben. Und es wird auch hof­fent­lich kei­ne geben. Aus rein phy­si­ka­li­schen Gründen.
Norbert Engele in Floridsdorf.
Pur­zi in Flo­rids­dorf. Kann sich irgend­je­mand vor­stel­len, dass sich die­ses Büb­chen vor etwa 50 Jah­ren mut­ter­see­len­al­lein in den damals eigen­stän­dig exis­ten­ten Nord-Yemen gewagt hat­te und die­ses mit­tel­al­ter­lich wüs­te Land ver­we­gen durchkreuzte?

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