Hunger!… Hunger!

Der Aufstand der Gefangenen

Graz, um 1950. Am Ende der Klos­ter­wies­gas­se. Zwi­schen Stey­rer­gas­se und Jako­mi­ni­gür­tel. Gegen­über einem der Mes­se-Ein­gän­ge und der Holz­ba­ra­cke in dem ent­we­der die Bezirks- oder Stadt­par­tei­lei­tung der KPÖ unter­ge­bracht war und von vie­len Gra­zern mit einem gro­ßen Bogen bedacht wur­de. Von die­ser Stra­ßen­ecke bis fast ganz hin­auf in die Stey­rer­gas­se lief eine lan­ge, hohe Mau­er. An man­chen Stel­len konn­te man die obers­te Geschoß­rei­he der dahin­ter­lie­gen­den Gebäu­de sehen. Schwer ver­git­ter­te Fens­ter­chen. “Vor­ne” lag die Con­rad-von-Höt­zen­dorf-Stra­ße, par­al­lel zur Klos­ter­wies­gas­se. Mit dem Lan­des­ge­richt. In der Klos­ter­wies­gas­se lag also der hin­te­re Teil des Are­als mit den Blö­cken des Gefan­ge­nen­hau­ses, dem Gefäng­nis. Zu die­ser Zeit – fünf Jah­re nach dem zwei­ten gro­ßen Krieg – dürf­te es noch immer über­be­legt gewe­sen sein. Es dürf­te auch Herbst gewe­sen sein. Und bereits dun­kel. Die Beleuch­tung unse­rer Stra­ßen war sehr schumm­rig. Ich war bereit ins Bett zu gehen. Mein “Bär­li” war­te­te schon auf mich. Da hör­te ich – zum ers­ten Mal in mei­nem Leben – ein Geräusch, das ich nie wie­der ver­ges­sen wer­de und das dadurch ent­stand, dass vie­le Men­schen auf ein­mal mit einem Blech-Löf­fel auf einen Blech-Ess­napf schlu­gen und dazu ryth­misch und im Chor “Hun­ger! Hun­ger!” rie­fen. Laut. Sehr laut. Sie schrien ihren Hun­ger hin­aus. Hin­aus in unse­re Stadt. Unüber­hör­bar. Ich saß da wie ein Stein. Hat­te plötz­lich Angst vor Unbe­kann­tem. Mein Vater sprang auf. Lief aus der Küche zum Schlüs­sel­brett im Vor­zim­mer. Eil­te in den Kel­ler. Dort stand unse­re Pres­se, mit der wir Most und Apfel­saft pro­du­zier­ten. Gleich dane­ben lehn­te die gro­ße, schwe­re Eisen­stan­ge mit der wir die Pres­se hän­disch betrie­ben und mit der er wie­der zurück­kam. Kaum war er wie­der bei uns, rief er: “Was­ser! Das Was­ser!” Es gab kei­nes. Das Was­ser war weg. Ein paar Sekun­den spä­ter ging das Licht aus. Mei­ne Mut­ter hat­te aber immer Ker­zen in der Nähe. “Kein Licht! Nur eine ein­zi­ge Ker­ze!” hör­te ich mei­nen Vater zischeln. Mit der Eisen­stan­ge zwi­schen den Hän­den. Mei­ne Mut­ter und ich kuschel­ten in einer Ecke der Küche. Und dann hör­te ich wie­der­um ein Geräusch zum ers­ten Mal, das von ras­seln­den Ket­ten, wie mein Vater mich zischelnd auf­klär­te. Aus allen Rich­tun­gen schie­nen die Ket­ten zu kom­men, und die Geräu­sche von Trit­ten misch­ten sich hin­zu, von ein­zel­nen Schrit­ten, von metal­li­schem Kli­cken, und dahin­ter war das “Hun­ger! Hun­ger!”, immer wie­der die Blech-Napf-Schlä­ge und das Schrei­en. Dann zischel­te mein Vater wie­der: “Jetz spritzns!”. Und das Hun­ger-Schrei­en lös­te sich in ein­zel­ne Schreie auf und das Ket­ten­ras­seln ver­stumm­te und es blieb nur mehr das Geräusch von lau­fen­den Moto­ren und es blieb der Geruch der Moto­ren und das lau­te Geräusch der Schu­he auf Asphalt und Stein. Ich hat­te nicht Angst, viel mehr: Ich fürch­te­te mich und hat­te gleich­zei­tig Angst. Ich sah lan­ge Kor­ri­do­re mit Men­schen, wel­che gro­ße Sprit­zen und Schläu­che mit sich führ­ten und in Zel­len spritz­ten, wo Men­schen mit lee­ren Hun­ger-Blech­näp­fen auf ver­git­ter­ten Türen schlu­gen und im Was­ser­strom bei­na­he ertran­ken. Und ich hör­te jene, die das gan­ze Lan­des­ge­richts-Are­al umstell­ten. Und es wur­de immer stil­ler. Dann hör­te ich nur mehr eini­ge weni­ge Stim­men, fremd­län­di­sche Stim­men, Stim­men unse­rer Besat­zer wie ich spä­ter erfah­ren habe, Stim­men in Form von eng­li­schen Befeh­len. Dann wie­der­um ras­sel­ten wie­der die Ket­ten und auch die Moto­ren wur­den lei­ser. Die Furcht ver­flüch­tig­te sich. Und die Angst. Nach lan­ger Zeit wur­de es auch wie­der Licht. Mein Vater kon­trol­lier­te die Geschäfts­räu­me, und die Pri­vat­räu­me. Nichts. Alles so wie es war. Die Eisen­stan­ge hielt er noch immer zwi­schen sei­nen Hän­den. Mei­ne Mut­ter blies die Ker­ze aus. Ich fühl­te, dass sie irgend­et­was ver­barg. Ich getrau­te mich nicht, etwas zu sagen, aber ich spür­te, dass es da noch ganz leich­te Angst und ein Bedürf­nis nach Trost gab. Es gab auch wie­der Was­ser. Alles schien sich nor­ma­li­siert zu haben. Drau­ßen war es still. Toten­still.
Nie­mand erwähn­te etwas von die­sem Vor­fall in den nächs­ten Tagen. Auch nicht in unse­rem Geschäft. Ob nur ein Kun­de anwe­send war oder ob der Raum vol­ler Leu­te war. Es hat­te sich alles wie­der nor­ma­li­siert, es hat­te ja nur Gefan­ge­ne betrof­fen. Es war das ers­te Mal, dass ich mich mit die­sem Begriff aus­ein­an­der­zu­set­zen begann. Was bedeu­te­te das, “gefan­gen” zu sein?

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